Schreibeinladung für die Textwochen 14.15.21

Für die Textwochen 14/15 des Schreibjahres 2021 stammen die Wörter  von Ludwig Zeidler und Irgendwas ist immer. Sie lauten:

Sonnenhut (ist übrigens auch eine (Heil-)pflanze, Echinacea)
haltlos
massieren

Obwohl ich sie nicht sehe, spüre ich sie deutlich, jede einzelne von ihnen. Vom Kopf bis zu den Füßen entfalten sie leise und zielsicher ihre Macht über mich, halten mich fest und zwingen mich für die nächste halbe Stunde in die Unbeweglichkeit. Eine leichte Bewegung würde ihre Wirkung unterbrechen, würde sie nahezu haltlos machen.

Ein – aus – die Atemwelle kommen lassen. Nach einer Weile hat sich die Atmung reguliert und ich lasse atmen. Die Bilder hinter meinen geschlossenen Augenlidern bewegen sich langsamer, verblassen und ein tiefes Schwarz breitet sich aus. Die Ohren wenden sich der leisen Hintergrundmusik zu, nehmen sie auf und leiten sie ins Körperinnere wie in einen großen Resonanzkörper. Dort bleiben sie liegen, leise, melodisch und besänftigend.

Und dann kommt sie, die Schwerelosigkeit, die Tiefenentspannung. Der Körper hat sein Gewicht scheinbar völlig verloren. Ob er liegt oder schwebt, ist kaum zu spüren.
Die Augen fallen zurück in ihre Höhlen, das anfänglich kaum merkbare Zittern der Lider geht in eine tiefe Schwere über. Dann wird es ganz still um mich.

Ich zähle mit, siebzehn – achtzehn. Das sind alle. Ich bewege mich vorsichtig, richte mich auf, massiere mir die kribbelnden Hände, die durch die längere Unbeweglichkeit vor sich hinsurren, und versuche langsam, in den Alltag zurückzufinden.

Die warme Frühlingssonne scheint ins helle Zimmer und mit meinem bunten Sonnenhut in der Hand stelle ich mich dem noch jungen Tag, bereit, mit der strahlenden Sonne um die Wette zu eifern.

237 Wörter

Schreibeinladung für die Textwochen 45.46.19 | Wortspende von „Meine literarische Visitenkarte“

 

3 Begriffe in maximal 300 Wörtern, dazu lädt Christiane wieder ein. Die Wörter für die Textwochen 45/46 des Schreibjahres 2019 kommen heute von mir und lauten:

Himmelsleuchten
recycelbar
ausreisen

 

Im Wandel der Zeit

Zechenhaushinterhöfe, Schrebergärten und Brieftaubenschläge, das wollte man als junger Mensch nicht wirklich auf Dauer, oder? Die Welt bereisen, nicht nur mit dem Finger auf der Landkarte, das waren schon damals meine geheimen Sehnsüchte.

Mit vierzehn Jahren hat man Lust, später mal die Welt zu sehen und das piefige Flair des Kohlenpottes auch mal über!

Eine vortastende Reise nach Berlin wurde recht bald zum beruflichen Wechsel des Familienoberhauptes mit einem Umzug für die gesamte Familie und auch, wenn der Blick aus dem Wohnzimmerfenster der siebten Hochhausetage auf das triste Niemandsland hinter der Mauer fiel, so boten die Blicke aus den anderen Fenstern die Aussicht auf eine junge, im Entstehen begriffene Trabantenstadt auf ehemaligen Feldern und Wiesen im Südosten von Berlin. Im Gegensatz zu der vom Zechenbetrieb und Hochöfen geprägten dauergeschwängerten grauen Luft des Kohlenpottes ein wahres Himmelsleuchten.

Etwas schwierig und immer wieder die Nerven aufreibend erwies sich das Ausreisen von Berlin gen Westen, denn je nach Lust und Laune der Volkspolizisten wurden das Auto und seine Insassen gefilzt und auf den Kopf gestellt, ob sich nicht in irgendeiner Ritze ein Mensch auf der Flucht befand.

Aber die Verwandtschaft im Ruhrgebiet, gefühlte Lichtjahre von den „Ausgereisten“ entfernt, war immer sehr interessiert an den Erlebnissen auf der Transitstrecke.

Die Jahre vergingen, die Verwandtschaft reduzierte sich auf natürlichem Wege und somit auch die Reisen in den Westen’. Und dann war er plötzlich da: der Tag, an dem sich die Mauer öffnete.

Dreißig Jahre sind seitdem ins Land gegangen. Dreißig Jahre mit unterschiedlichen Erwartungen, Gefühlen und Erfahrungen auf beiden Seiten, und der Weg ist noch lange nicht zu Ende. Doch die unbändige Freude, die der Tag des Mauerfalles immer wieder als recycelbares Gefühl in mir und unzähligen anderen hervorruft, überstrahlt die noch nicht gelösten Probleme wie ein buntes Himmelsleuchten, fast so wie zum jährlichen Jahreswechsel.

© G. Bessen, Foto: Dr. Rolf Nuck, 2014

300 Wörter

 

 

 

Schreibeinladung für die Textwochen 21/22/2019

Die Wörter für die Textwochen 21/22 des Schreibjahres 2019 kommen vom Team dergl und ihrem Blog Die Tintenkleckse sehen aus wie Vögel.

Malkasten
gleitend
torpedieren

Aufbruch zu neuen Ufern

Neurodermitis – eine belastende Krankheit, ein wahrer Albtraum.

Obwohl sie die Trauerphase nach seinem Tod längst abgeschlossen glaubte, spielte ihr Körper immer wieder verrückt. Aufgeplatzte Fingerkuppen und wunde Füße gehörten mittlerweile zu ihrem Alltagsbild und raubten ihr immer mehr die Lust zum Leben.

Gleitend verfiel sie in eine Depression,  und sie musste sich jeden Tag zwingen, überhaupt aufzustehen. Alles, was ihr jemals Spaß und Freude bereitet hatte, konnte sie nur noch eingeschränkt machen. Und dann fiel ihr der Zeitungsartikel in die Hände, diese kleine Anzeige, die sie fast übersehen hatte. Dass man Warzen und Gürtelrosen besprechen konnte, wusste sie, obwohl sie eigentlich nicht an einen wirklichen  Erfolg glaubte, doch wenn es einem so mies ging wie ihr und die negativen Gedanken und Gefühle sie regelrecht torpedierten, griff man da nicht nach jedem kleinsten Strohhalm?

Ein erstes Treffen konnte zeitnah erfolgen. Die Chemie zwischen beiden Frauen stimmte und diese beherzte kleine Heilpraktikerin hatte ihre Welt in weniger als einer Stunde auf den Kopf gestellt. Nach einem intensiven Frage-Antwort-Spiel zwischen den beiden Frauen kam eine Wahrheit ans Licht, die sie tief in ihrem Inneren erahnt, aber nie wirklich zugelassen hatte. Ihr bisheriges Leben, ihre ständige Anpassung, immer die brave Tochter und später die verständnis- und liebevolle Ehefrau zu sein, hatten ihre eigene Persönlichkeit, ihre kreativen Talente und Fähigkeiten  vollkommen in den Schatten gestellt und ihre wahre Persönlichkeit jahrzehntelang vollkommen verdrängt.

Noch war es nicht zu spät, das Ruder herumzureißen und mit Baumwollhandschuhen, einem großen Zeichenblock und einem Malkasten kam sie nach Hause, den Blick geweitet für all die schönen Dinge in der Natur, die sie ab sofort malen wollte. Eine tiefe Ruhe und innerer Frieden überkamen sie, als sie sich mit ihrem neu erstandenen künftigen Arbeitswerkzeug in ihren blühenden und duftenden Garten setzte. Sie fühlte sich plötzlich frei und wie neu geboren.

299 Wörter

Schreibeinladung für die Textwochen 17.18.19(2)

Schreibeinladung für die Textwochen 17.18.19 | Wortspende von Agnes Podczeck

Die Wörter für die Textwochen 17/18 des Schreibjahres 2019 kommen von Agnes und ihrem Blog Agnes Podczeck. Ihre Begriffe für die neue Runde lauten:

Kartoffel
anzüglich
bevormunden

Vergangenheit

 Maria hatte sich damals vorgenommen, dieses Haus nie wieder zu betreten. Als sie in der Todesanzeige gelesen hatte, dass das Miststück nicht mehr lebte, gab sie dem Drängen ihrer Tochter nach, sich ihrer Vergangenheit zu stellen und damit abzuschließen. Ein Makler bemühte sich intensiv, das Haus, das vor dem Zweiten Weltkrieg gebaut worden war, zu verkaufen.

Sie wusste, Miriam hatte recht. Sie musste sich von den düsteren Schatten der Vergangenheit lösen und ihren inneren Frieden finden. Zudem hatte das Mutter-Tochter-Verhältnis einige Risse bekommen, denn Miriam waren die Albträume ihrer Mutter, ihr nächtliches Schreien und ihre häufigen Depressionsphasen nicht verborgen geblieben, sodass das gute Zureden, gepaart mit unglaublichem Verständnis, doch gelegentlich in ein Bevormunden ausartete. Maria brach das Gespräch dann einfach ab und zog sich stundenlang in ihr Zimmer zurück. Damit war das Problem der Vergangenheit aber nicht zu lösen.

Maria nahm all ihre Kraft und ihren Mut zusammen, als der Makler freundlich die Tür öffnete und die beiden Frauen bat, einzutreten. Es war alles so wie vor fünfundzwanzig Jahren. Nur die Bäume und Sträucher im Garten waren so sehr gewachsen, dass die Zimmer dunkel wirkten.

Als Maria eindringlich darauf bestand, alleine den Keller zu besichtigen, stutzte Miriam. Sie wusste von ihrer Mutter lediglich, dass sie in diesem Haushalt als Kindermädchen der drei Kinder kein einfaches Leben gehabt hatte und außerdem zu Diensten aller Art herangezogen wurde, für die sie nicht entlohnt wurde.

Maria blickte sich in dem kalten und feuchten Kartoffelkeller um. Sie fror erbärmlich  und hielt sich die Ohren zu, als würde er seine anzüglichen Bemerkungen noch heute in ihr Ohr flüstern. Sie hatte genug gesehen und stolperte die Treppe hinauf. Niemals würde Miriam erfahren, dass sie das Resultat einer brutalen Vergewaltigung in diesem Loch war. Lieber sollte sie weiterhin glauben, ihr Vater sei das Opfer eines Verkehrsunfalls geworden.

300 Wörter

Schreibeinladung für die Textwochen 12.13.19 (2)

Schreibeinladung für die Textwochen 12.13.19 | Wortspende von Geschichtszauberei

Die Wörter für die Textwochen 12/13 des Schreibjahres 2019 kommen von Rina und ihrem Blog Geschichtszauberei. Ihre neuen Begriffe lauten:

Café
verdorben
beißen

 

Aller Anfang ist schwer 

Er war ungenießbar und schmeckte säuerlich, fast verdorben. Kaum zu glauben, was aus diesem gemütlichen kleinen Café am Rande der Stadt geworden war, seitdem die Besitzer gewechselt hatten. Aber so war das  oft. Die neuen Besen kehrten nur gut, solange sie neu waren. Angewidert schob sie den Teller mit dem angebissenen Käsekuchen von sich weg und hoffte, davon keinen Herpes zu bekommen, von Flatulenzen und anderen Nachwirkungen mal ganz abgesehen.

Was für ein Tag! Sie war herumgelaufen wie ein aufgescheuchtes Huhn, hatte bereits am frühen Samstagmorgen ihre ganze Wohnung auf den Kopf gestellt und geputzt und war dann aus lauter Verzweiflung joggen gegangen. Der frische Muskelkater eroberte sich deutlich in spürbarer Genauigkeit jeden Muskel ihres Körpers.

So schwierig hatte sie sich das alles nicht vorgestellt und sie begann, sich nervös auf die Unterlippe zu beißen. Durchhalten und keinen weiteren Gedanken daran verschwenden, das war ihr Mantra, das wie ein kleiner Film kontinuierlich vor ihrem inneren Auge ablief.

Sie zahlte, legte sich den Schal eng um den Hals und trat hinaus in die feuchtkalte Märzluft. Selbst, wenn ihr der Muskelkater bereits zu schaffen machte, musste sie ja irgendwie wieder nach Hause kommen und ein zügiger Schritt lenkte sie von ihren permanenten Gedanken ab.

Als sie nach Hause kam, war der Geruch in der Wohnung trotz der intensiven Putzaktion wie ein Schlag ins Gesicht. Der musste raus! Ohne einen neuen Farbanstrich wäre das jedoch hoffnungslos. Sie blickte auf die Uhr – der Baumarkt hatte noch geöffnet. Ohne länger zu überlegen, schnappte sie sich ihre Geldbörse, Papiere und Autoschlüssel.

Morgen hatte sie nichts vor und zwei ihrer engsten Freunde hoffentlich auch nicht. Ihr Plan für das Wochenende nahm immer klarere Konturen an und die Aktion  fing an, ihr Spaß zu machen. Eine frisch renovierte Wohnung würde der unwiderrufliche  Start in ihre frische Nichtraucherkarriere bedeuten.

300 Wörter

 

 

Schreibeinladung für die Textwochen 12.13.19

Schreibeinladung für die Textwochen 12.13.19 | Wortspende von Geschichtszauberei

Die Wörter für die Textwochen 12/13 des Schreibjahres 2019 kommen von Rina und ihrem Blog Geschichtszauberei. Ihre neuen Begriffe lauten:

Café
verdorben
beißen

 

Wenn det Tanzbeen juckt …

Im Café Keese sitz ick nun,
weeß nich so recht, wat soll ick tun?
Hier sind ne Menge netter Frauen,
die alle zu mir rüberschauen.

Det Telefon fängt an zu läuten,
mich juckt’s, ick könnt mir jetzt glatt häuten.
„Na, Kleener, haste uff mir Lust?
Sach ja, sonst bin ick gleich voll Frust!“

So hat man mir noch nie umworben,
direkt und so ganz unverdorben,
mich, Fritze Müller aus dem Wedding,
erfahren bisher nur im Petting.

Die Kleene mit den roten Locken
scheint liebend gerne abzurocken.
Die Füße unterm Tisch kaum still,
weeß sie doch sicher, wat se will.

Wie mag die Zuckerschnute heißen?
Ick könnt mir in den Hintern beißen,
wär ick doch bloß nich so jehemmt
und wie ein I-Männchen verklemmt!

Wat soll’s! Ick jeh nu einfach zu ihr hin,
denn janz nach ihr steht mir der Sinn.
Ick werd mit ihr det Tanzbein schwingen,
ihr zärtlich wat ins Öhrchen singen,

sie in mein Liebesnest entführen
und ihren heißen Körper spüren … .

Ick nippe kurz an meinem Gin –
herrje, wo isse denn nu hin?
Wo ick sie eben noch jesehn,
seh icke jetzt nen Kellner steh’n.

Geplatzt wie eene Seifenblase,
ick fühl mir wieder wie Zwerg Nase,
geh nun allene wieder heim
und denke: Sollte halt nich sein!

© G. Bessen

212 Wörter

 

 

 http://www.cafekeese.de/

 

Als eines der beliebtesten Berliner Tanzlokale ist das Café
Keese auch jenseits der Berliner Stadtgrenze berühmt.

Ein Freund von uns hat dort vor 26 Jahren seine Herzensdame  gefunden und lebt nun, glücklich verheiratet mit ihr, in der Schweiz …

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Schreibeinladung für die Textwochen 08.09.19 (2)

Entscheidungen (2)

Es dauerte keine drei Tage, da hatte Ernst seine Meinung über Seniorenheime mit Pflegemöglichkeit  gründlich revidiert. Die freundliche Aufnahme, das helle, dem See zugewandte Zimmer und sein Zimmernachbar Ludwig hatten ihn mit seinem momentanen Schicksal versöhnt.

Ludwig und er verbrachten viele Stunden auf der Bank am  stillen Seeufer und plauderten gern miteinander über Gott und die Welt. Sie hatten das Gefühl, sich schon ein Leben lang zu kennen. Und zum ersten Mal wurde Ernst so deutlich wie nie bewusst, dass der restliche Lebensweg doch nicht mehr unendlich war, sondern, wie bei Ludwig, eine scharfe Kurve einschlagen konnte und man dann alle Hände voll zu tun hatte, nicht selbst völlig aus der Kurve getragen zu werden.

„Alt werden ist nichts für Feiglinge.“ Da war etwas dran, sinnierte Ernst. Niemand wollte alt werden, schon gar nicht altersschwach und krank. Aber irgendwann war es vorbei mit dem jugendlichen  Hüpfen und wer nicht lernte, das Leben rechtzeitig in jeder Lebenslage als ein Geschenk und eine immer  neue Herausforderung zu sehen, die es zu bewältigen galt, der machte sich etwas vor.

Ernst steckte sein Lesezeichen ins Buch und erhob sich langsam. Es wurde windig auf der Bank am See und Ludwig erwartete ihn in seinem Zimmer zu einer Partie Schach. Mit dem Rollator brauchte Ernst schon eine gewisse Zeit zurück zum Haus  und seine gute Erziehung ließ ihn trotz seiner Bewegungseinschränkung  pünktlich sein.

Sobald er und Christel wieder in ihrem Zuhause waren, würde er sich mit ihr gemeinsam Gedanken über einen Umzug in diese Villa am See machen. Ein Doppelzimmer für Ehepaare hatte er sich bereits zeigen lassen.

Warum sollten sie sich mit ihrem  Haus weiterhin belasten, das zunehmend mehr Arbeit machte, anstatt  mit Menschen ihres Alters noch eine gute Zeit in netter Gesellschaft zu erleben und in Würde den letzten Weg gemeinsam zu gehen?

300 Wörter

Schreibeinladung für die Textwochen 08.09.19 (1)

Schreibeinladung für die Textwochen 08.09.19 | Wortspende von wortgeflumselkritzelkram Die Wörter für die Textwochen 08/09 des Schreibjahres 2019 kommen von  Sabine und ihrem Blog wortgeflumselkritzelkram. Eingeladen hat, wie immer, Christiane. Die neuen Begriffe lauten:

Lesezeichen
altersschwach
hüpfen

 

 Entscheidungen (1)

Sein Herz war weit entfernt davon freudig zu hüpfen, als er den Taxifahrer bezahlte, der sich sofort auf den Weg zu seinem nächsten Kunden machte. Ernst betrachtete die alte Villa, die ihrem neuen Besucher still und wissend im Licht der Frühlingssonne entgegenblickte.

’Du bist so altersschwach wie ich’, erwiderte Ernst den stummen Blick des vornehmen Hauses. ‚Aber ich bleibe nicht lange, in vier Wochen bist du mich wieder los.’

Ernst steckte sich ein Lesezeichen in sein dünnes Buch und schob es tief in die Manteltasche, denn er brauchte beide Hände, um sich und den Rollator zum Eingang zu bewegen.

Kurzzeitpflege – das Wort erschien ihm wie ein Hohn angesichts der Tatsache, dass er nun vier Wochen in diesem herrschaftlichen Alterssitz mit anderen Alten und Kranken verbringen sollte. Er, der nie in ein Heim wollte, war nun dazu verdammt, sich hier vier Wochen lang das Gerede und Gezeter fremder Menschen anzuhören. Abgeschoben fühlte er sich, ausrangiert, wie ein altes Möbelstück.

Er schämte sich seiner Gedanken, aber sie waren nun einmal da und ließen sich nicht einfach wegstecken, wie die unzähligen Lesezeichen in seinen Büchern. Überhaupt – wie sollte er die vier Wochen ohne seine Bibliothek, seine Zeitschriften und Bücher überstehen? Lesen war das einzige Hobby, das ihm geblieben war, nachdem seine arthritischen Hände ihm immer weniger die Möglichkeit boten, sich an seinen Flügel zu setzen und zu spielen. Der Rollator half ihm wenigstens, sich langsam in Haus und Garten zu bewegen.

Nun war ein Umstand eingetreten, der es ihm unmöglich machte, vier Wochen alleine zu Hause zu bleiben. Christel brauchte dringend ein neues Hüftgelenk und nach der Operation eine Rehamaßnahme. So war Ernst hier gelandet, ob ihm das  passte oder nicht.

Ja, er war ein alter Egoist und kurz entschlossen schob er weitere negative Gedanken beiseite und nahm den Weg zum Eingang in Angriff.

300 Wörter

Schreibeinladung für die Textwoche 02.03.19

Schreibeinladung für die Textwochen 02.03.19 | Wortspende von Ludwig Zeidler

Die neuen Wörter für die Textwochen 02/03 des Schreibjahres 2019 spendete der  Etüdenerfinder Ludwig Zeidler.

Die Begriffe lauten:

Abfallglück
Verfallsdatum
unschuldig

 Minimalismus

Seine wenigen Besitztümer hatten kein Verfallsdatum, im Gegenteil, trotz wachsender Müllberge im Land und zunehmender Umweltverschmutzung weltweit lebte er im sogenannten Abfallglück.

Er hatte alles verloren. Lange hatte er gebraucht, um diesen Schicksalsschlag überhaupt annähernd zu erfassen und zu begreifen. Von Verarbeitung wollte er gar nicht sprechen.

Sein kleines Mädchen hatte niemandem etwas getan. Sie war, wie alle kleinen Mädchen, unschuldig und hatte gerade intensiv begonnen, die große weite Welt wie alle Fünfjährigen zu erkunden, nahm alles Neue wie ein trockener Schwamm in sich auf und freute sich schon sehr auf die Schule.

Und dann kam er, eine Bestie, die man bis heute nicht gefunden hatte und die womöglich straffrei ausgehen würde. Er hatte sie mit Gewalt genommen und ihren toten Körper wie einen Müllsack entsorgt, sein kleines Mädchen, seinen ganzer Vaterstolz und letztlich auch sein Leben.
Der Abstieg ließ nicht lange auf sich warten. Nachdem sich seine Frau vor Kummer das Leben genommen hatte, versuchte er den Seinigen im Alkohol zu ertränken. Und nicht lange danach fand er sich ohne Arbeit, ohne Dach über dem Kopf und ohne Geld in der Tasche auf der Straße wieder, ein Schicksal, das er mit Tausenden in Deutschland teilte.
Doch wen interessierte das eigentlich?Er war zu feige gewesen, seinem eigenen Leben ein Ende zu setzen und als er andere Betroffene kennenlernte, lernte er auch diese Menschen zu respektieren und sich mit ihnen verbunden zu fühlen.

In einem leer stehenden Haus lebten sie mittlerweile zu zehnt mit dem Allernotwendigsten, zusammengesammelt aus Kleiderkammern, Sperrmüll und Almosen vom Sozialamt.
Was als Strömung ‚Minimalismus’ als neuer Trend durch die Gesellschaft zog, war für ihn seit Jahren bitterer Alltag und beinhaltete sogar ironischerweise einen Hauch von Freiheit.
Sein Hab und Gut war schnell gepackt. Einen Unterschlupf für die Nacht fand er überall.

294 Wörter

© G. Bessen

 

abc-Etüden 43.44.18

Die neuen Wörter für die Textwochen 43 und 44 des Schreibjahres 2018 stiftete Bernd von redskiesoverparadise.

Eingeladen hat, wie immer, Christiane.

Sie lauten:

Pfründe (Erklärung für alle Fälle: Wikipedia, Duden)
mondän
lassen.

Lebensträume

Schon als kleiner Junge hatte er davon geträumt, später mal auf einer prächtigen Burg zu wohnen und es sich gut gehen zu lassen. Besonders an den Abenden, an denen er hungrig im Bett lag und sein Vater das wenige verdiente Geld lieber ins Wirtshaus getragen und dort versoffen und anschließend die Mutter verprügelt hatte, wurde dieser Gedanke zu einer so beherrschenden Idee, die ihn mit vierzehn Jahren aus dem Haus und auf die Straße trieb.

Er schlug sich mit etwas Arbeit hier und dort durch, durchquerte dabei ganz Europa und wurde zu einem jungen und nicht unattraktiven Mann.

Die Frauen lagen ihm zu Füßen, reiche und arme, aus allen Bildungsschichten, ja, sie rissen sich förmlich um ihn, dem attraktiven Gesellen, der nichts wirklich gelernt hatte und immer von der Hand in den Mund gelebt hatte.

Die richtige Frau hatte er noch nicht getroffen, obgleich er an Frauenbekanntschaften nun wirklich keinen Mangel hatte und manchmal froh war, wenn er sein Haupt alleine auf irgendeine billige Herbergspritsche betten konnte.

Doch sie würde kommen, die Prinzessin aus dem reichen Adelsgeschlecht, die ihn für würdig erachtete, um ihre Hand anzuhalten.

Keinen Hunger mehr erleiden und sich keiner Armut mehr zu schämen – dieser Gedanke trieb ihn an, jeden Morgen aufzustehen und sich seinem legalen und oft auch illegalen Tagewerk hinzugeben.

Er hatte sich bestens auf seine Rolle vorbereitet, denn auch ein Taugenichts war lernfähig und konnte sich Bildung und Manieren aneignen. Wenn er erst einmal zu Höherem aufgestiegen war, denn dazu fühlte er sich berufen, in einem Schloss mit mondänem Glanz und von seinen Pfründen lebend, hätte er die Genugtuung und den Ausgleich für seine bittere und verpfuschte Kindheit.

Kinder würde er jedenfalls nicht in diese verrückte Welt setzen, in der sich jeder selbst der Nächste zu sein schien.

294 Wörter

© G. Bessen