Schreibeinladung für die Textwochen 08.09.19 (2)

Entscheidungen (2)

Es dauerte keine drei Tage, da hatte Ernst seine Meinung über Seniorenheime mit Pflegemöglichkeit  gründlich revidiert. Die freundliche Aufnahme, das helle, dem See zugewandte Zimmer und sein Zimmernachbar Ludwig hatten ihn mit seinem momentanen Schicksal versöhnt.

Ludwig und er verbrachten viele Stunden auf der Bank am  stillen Seeufer und plauderten gern miteinander über Gott und die Welt. Sie hatten das Gefühl, sich schon ein Leben lang zu kennen. Und zum ersten Mal wurde Ernst so deutlich wie nie bewusst, dass der restliche Lebensweg doch nicht mehr unendlich war, sondern, wie bei Ludwig, eine scharfe Kurve einschlagen konnte und man dann alle Hände voll zu tun hatte, nicht selbst völlig aus der Kurve getragen zu werden.

„Alt werden ist nichts für Feiglinge.“ Da war etwas dran, sinnierte Ernst. Niemand wollte alt werden, schon gar nicht altersschwach und krank. Aber irgendwann war es vorbei mit dem jugendlichen  Hüpfen und wer nicht lernte, das Leben rechtzeitig in jeder Lebenslage als ein Geschenk und eine immer  neue Herausforderung zu sehen, die es zu bewältigen galt, der machte sich etwas vor.

Ernst steckte sein Lesezeichen ins Buch und erhob sich langsam. Es wurde windig auf der Bank am See und Ludwig erwartete ihn in seinem Zimmer zu einer Partie Schach. Mit dem Rollator brauchte Ernst schon eine gewisse Zeit zurück zum Haus  und seine gute Erziehung ließ ihn trotz seiner Bewegungseinschränkung  pünktlich sein.

Sobald er und Christel wieder in ihrem Zuhause waren, würde er sich mit ihr gemeinsam Gedanken über einen Umzug in diese Villa am See machen. Ein Doppelzimmer für Ehepaare hatte er sich bereits zeigen lassen.

Warum sollten sie sich mit ihrem  Haus weiterhin belasten, das zunehmend mehr Arbeit machte, anstatt  mit Menschen ihres Alters noch eine gute Zeit in netter Gesellschaft zu erleben und in Würde den letzten Weg gemeinsam zu gehen?

300 Wörter

Schreibeinladung für die Textwochen 08.09.19 (1)

Schreibeinladung für die Textwochen 08.09.19 | Wortspende von wortgeflumselkritzelkram Die Wörter für die Textwochen 08/09 des Schreibjahres 2019 kommen von  Sabine und ihrem Blog wortgeflumselkritzelkram. Eingeladen hat, wie immer, Christiane. Die neuen Begriffe lauten:

Lesezeichen
altersschwach
hüpfen

 

 Entscheidungen (1)

Sein Herz war weit entfernt davon freudig zu hüpfen, als er den Taxifahrer bezahlte, der sich sofort auf den Weg zu seinem nächsten Kunden machte. Ernst betrachtete die alte Villa, die ihrem neuen Besucher still und wissend im Licht der Frühlingssonne entgegenblickte.

’Du bist so altersschwach wie ich’, erwiderte Ernst den stummen Blick des vornehmen Hauses. ‚Aber ich bleibe nicht lange, in vier Wochen bist du mich wieder los.’

Ernst steckte sich ein Lesezeichen in sein dünnes Buch und schob es tief in die Manteltasche, denn er brauchte beide Hände, um sich und den Rollator zum Eingang zu bewegen.

Kurzzeitpflege – das Wort erschien ihm wie ein Hohn angesichts der Tatsache, dass er nun vier Wochen in diesem herrschaftlichen Alterssitz mit anderen Alten und Kranken verbringen sollte. Er, der nie in ein Heim wollte, war nun dazu verdammt, sich hier vier Wochen lang das Gerede und Gezeter fremder Menschen anzuhören. Abgeschoben fühlte er sich, ausrangiert, wie ein altes Möbelstück.

Er schämte sich seiner Gedanken, aber sie waren nun einmal da und ließen sich nicht einfach wegstecken, wie die unzähligen Lesezeichen in seinen Büchern. Überhaupt – wie sollte er die vier Wochen ohne seine Bibliothek, seine Zeitschriften und Bücher überstehen? Lesen war das einzige Hobby, das ihm geblieben war, nachdem seine arthritischen Hände ihm immer weniger die Möglichkeit boten, sich an seinen Flügel zu setzen und zu spielen. Der Rollator half ihm wenigstens, sich langsam in Haus und Garten zu bewegen.

Nun war ein Umstand eingetreten, der es ihm unmöglich machte, vier Wochen alleine zu Hause zu bleiben. Christel brauchte dringend ein neues Hüftgelenk und nach der Operation eine Rehamaßnahme. So war Ernst hier gelandet, ob ihm das  passte oder nicht.

Ja, er war ein alter Egoist und kurz entschlossen schob er weitere negative Gedanken beiseite und nahm den Weg zum Eingang in Angriff.

300 Wörter