Helena schlenderte vergnügt durch die stillen Straßen, schaute abwechselnd mal nach rechts, mal nach links und erfreute sich an den bunten und festlich geschmückten Fenstern. Sie hatte den Heiligen Abend mit ihren Eltern und Geschwistern in ihrem Elternhaus verbracht. Tief in ihrem Herzen war ein stiller Frieden, wie sie ihn lange nicht erlebt hatte. So schön, wie der Tag auch gewesen war, sie freute sich auf ihre kleine, gemütliche Wohnung, in der sie den Abend bei einem Glas Rotwein für sich ausklingen lassen wollte. Den Schatten eines Mannes, der ihr seit einer Weile im sicheren Abstand von etwa zehn Metern folgte, bemerkte sie nicht.
Kleine Schneeflocken tänzelten vom Himmel und legten sich sanft auf den kalten Asphalt. Helena stoppte unvermittelt. Vor ihr auf dem Bürgersteig saß ein Schäferhund und blickte sie gerade heraus an.
„Nanu, wo kommst du denn auf einmal her?“, fragte sie und schaute ihn erstaunt an. „Hat man dich etwa ausgesetzt?“
Er hatte ein wunderschönes helles Fell, das im sanften Licht der Straßenlaterne leuchtete.
„Nimmst du mich mit?“
Helena blickte sich erstaunt um, aber außer ihr und dem Hund dort war niemand zu sehen.
Irritiert blickte sie den Hund an. Das war doch nicht möglich, nein, auf keinen Fall. Nach zwei Gläsern Sekt konnte sie unmöglich Stimmen hören. Sie schaute sich noch einmal suchend um, dann betrachte sie den Schäferhund genauer.
Sie schaute in sein rehbraunes Auge, das sie so flehentlich ansah, dass ihr das Herz schwer wurde.
„Wie stellst du dir das vor? Ich kann dich doch nicht einfach mitnehmen. Du hast doch sicher ein Herrchen oder Frauchen, die dich längst vermissen.“
Sie betrachtete den Schäferhund genauer. Er trug kein Halsband, aber das besagte gar nichts. Ein so gepflegter Hund konnte kein Streuner sein. Und – das hatte sie noch nie gesehen – er hatte zwei unterschiedliche Augen. Von einer Seite sah er aus wie ein Schäferhund, von der anderen wie ein Husky.
„Nun komm schon, oder willst du warten, bis wir beide völlig durchnässt sind?!“, und keine weitere Antwort abwartend, stand der Hund auf und trottete weiter.
Helena war so perplex, dass sie ohne ein weiters Wort mit ihrem vierbeinigen Begleiter weiter ging. Artig hob er an der Kastanie vor ihrem Haus das Bein und trottete hinter ihr die Stufen bis zur zweiten Etage hinauf.
Sie bereitete ihm im Schlafzimmer vor ihrem Bett auf einer Wolldecke ein gemütliches Lager, nachdem er sich satt gefressen hatte. Helena dachte an Trixi, ihre alte, treue Schäferhündin, die sie vor knapp einem Jahr hatte einschläfern lassen müssen und schon schossen ihr die Tränen in die Augen.
Morgen würde sie den Hund in ein Tierheim bringen und morgen würde ihr Kopf auch wieder klar sein. ‚Ein sprechender Hund, so ein Quatsch!“, schalt sie sich innerlich und schüttelte über sich selbst den Kopf. Sie begann sich auszuziehen, drehte sich noch einmal um und betrachtete ihren neuen Schlafzimmergefährten.
„Und du drehst dich jetzt um, schließlich bist du ein Rüde!“.
Statt einer Antwort schaute sie der Hund aus seinem strahlend blauen Auge schläfrig an, rollte sich ein wie ein Embryo und verfiel in einen tiefen Hundeschlaf. Helena verzichtete auf ihr Glas Rotwein, ging ebenfalls ins Bett und betrachtete nachdenklich ihren neuen Mitbewohner.
„Ich muss mal raus! Hättest du die Tür nicht abgeschlossen, hätte ich sie mir selbst aufgemacht. Du brauchst mir zu aufschließen, um alles andere kümmere ich mich.“
Helena erstarrte unter ihrer kuscheligen Bettdecke. Da war sie wieder – die Hundestimme von gestrigen Abend. Vorsichtig lugte sie mit einem Auge unter ihrer Bettdecke hervor. In ganzer Schönheit stand der Schäferhund mit beiden Vorderpfoten auf ihrer Bettkante und blickte sie flehend an. Sie stand auf, schloss die Wohnungstür auf, ließ den Hund hinaus und legte sich abwartend wieder hin. Nach wenigen Minuten kam er zurück, drückte die Wohnungstür zu und legte sich wieder auf sein Nachtlager.
„Tut mir Leid, dass ich dich wecken musste, aber ich wollte dir Unangenehmeres ersparen“, murmelte er, bevor seine müden Schäferhundaugen erneut zufielen.
Helena schlief auch wieder ein, verfiel aber in einen sehr unruhigen Schlaf. Sie wälzte sich hin und her und träumte so viel Unsinn zusammen, dass sie kurze Zeit später aufstand und sich einen starken Kaffee kochte. Sie musste sich konzentrieren. Sie rief ihre Mutter an und bedankte sich noch einmal für den schönen Abend. Allen in ihrer Familie schien es gut zu gehen, so dass es vermutlich nicht am Sekt lag, dass sie die Stimme des Hundes gehört hatte.
„Du bist ja schon auf“, ertönte die Stimme des Hundes hinter ihr. Sie betrachtete ihn genauer. Er schaute sie eindringlich mit seinem braunen Auge an. Sobald er seinen gefüllten Fressnapf erblickt hatte, machte er sich gierig über sein Frühstück her.
„Hast du auch einen Namen“?, frage Helena ihn unvermittelt.
Er schaute sich kurz zu ihr um.
„Robin“, antwortete er uns fraß genüsslich weiter.
„Wie hast du dir das vorgestellt, Robin? Du kannst nicht hier bleiben, denn ich bin überzeugt, dein Herrchen oder Frauchen sucht dich bereits. Ich schlage vor, wir gehen zur Polizei und erkundigen uns, ob dich jemand als vermisst gemeldet hat. Was meinst du? Wenn nicht, bringe ich dich ins Tierheim.“
Robin leckte sich mit seiner langen roten Zunge das Maul, schlabberte ein wenig Wasser, streckte sich lang vor Helenas Füßen aus und sagte:
„Das ist unnötige Zeitverschwendung. Es ist meine Aufgabe, eine Weile bei dir zu bleiben und auf dich acht zu geben.“
„Wer sagt das?“
„Das kann ich dir nicht sagen, ich weiß aber, dass es so ist.“
Helena blickte Robin irritiert an. Dabei fiel ihr auf, dass sie seine Sprache nur verstand, wenn er sie mit seinem braunen Auge direkt ansah. Hatte er ihr das andere zugewandt, wirkte er eher teilnahmslos.
„Wie stellst du dir das vor? Ich habe zwar jetzt ein paar Tage frei, aber nicht die Absicht, mein Leben nach dir zu richten.“
„Das musst du doch auch nicht. Wenn du dafür sorgst, dass ich zu fressen habe und raus kann, wenn ich mal meine Schäferhundbedürfnisse habe, ist doch alles in Ordnung. Du kannst mich überall mit hinnehmen, ich bin gut erzogen.“
„Wenn dich aber jemand reden hört, was auch ich in höchstem Maße seltsam finde, was soll ich dann machen? Die anderen halten mich vielleicht für übergeschnappt?“
Für einen Moment schien es ihr, als lächelte Robin.
„Mach dir darüber mal keine Sorgen. Dass du meine Sprache verstehst, merkt niemand sonst. Und das ist auch nur für eine bestimmte Zeit der Fall, dann erlischt dieser Zauber und meine Mission bei dir ist für mich beendet. Ich werde dann wieder dorthin gehen, woher ich gekommen bin.“
Helena gefiel der Gedanke, wieder einen Hund in ihrer Nähe zu haben. Nach Trixis Tod hatte sie zwar noch Klaus, ihren Lebensgefährten, doch der zog es vier Monate später vor, sich mit einer Jüngeren zu liieren und schlagartig mit Sack und Pack auszuziehen. Helena zog sich sehr zurück und litt unter der Stille in der Wohnung und ihrer eigenen Einsamkeit. Der Frühling und der Sommer fanden mehr oder weniger ohne sie statt, sie war mit ihrer eigenen Trauer zu sehr beschäftigt, dass das Erwachen und Reifen in der Natur nicht bis zu ihrem Herzen vordringen konnte. Zum Herbst hin kündigte sie ihre Arbeitsstelle in der Stadtbibliothek und begann als Bibliothekarin in einem kleinen Buchladen in der Innenstadt. Peter, ihr Chef, war ein reizender und charmanter Mann, der sie langsam, aber sicher aus ihrem Schneckenhaus befreite. Sie wusste, dass er verheiratet war und doch fand sie nichts dabei, hin und wieder nach Feierabend mit ihm Essen oder ins Kino zu gehen. Er war ein aufmerksamer und interessanter Gesprächspartner.
Als ihr klar wurde, dass sich ihre Sympathie für ihn in eine gewisse Verliebtheit gewandelt hatte, kostete es sie alle Mühe, ihre wahren Gefühle vor ihm zu verbergen.
Zum Nikolaustag schenkte er ihr eine feingliedrige silberne Halskette, legte sie ihr in einem sündhaft teuren Lokal vor dem Essen um den Hals und küsste sie zärtlich in den Nacken. Helena wich scheu zurück. Das wollte sie nicht, schon gar nicht nach dem Chaos, das Klaus in ihrem Innersten hinterlassen hatte und erst recht nicht mit einem verheirateten Mann.
Sie wehrte sich gegen ihre Gefühle. Und doch, als er mal beiläufig von seiner Ehe, die angeblich nur noch auf dem Papier bestand erzählte, keimte ein Körnchen der Hoffnung in ihr auf. Sie wartete ab, ohne ihn in irgendeiner Form zu drängen.
Und heute war der Tag, an dem sie bei ihm und seiner Frau zum Essen eingeladen war. Wie hatte sie nur zusagen können? Eine innere Aufregung legte sich krampfartig um ihre Magengrube und wandelte ihre anfängliche Freude in blanke Nervosität um. Und nun hatte sie Robin. Konnte sie ihn einfach mitnehmen? Sie wusste doch gar nicht, ob ein unangemeldeter Hund Peter und seiner Frau willkommen waren. Möglicherweise hatten sie gerade eine läufige Hündin, der Robin schmachtend den Hof machen würde. Auf was ließ sie sich da bloß ein?
Als hätte Robin ihre Gedanken erraten, blickte sein braunes Auge sie fest an.
„Ich habe dir versprochen, mich zu benehmen. Mach dir lieber mal Gedanken darüber, was du anziehen willst.“
Helena nahm ein heißes Bad, nachdem sie Robin gnadenlos aus ihrem Badezimmer ausgesperrt hatte. Das heiße Wasser beruhigte ihr Gemüt. Peter wusste nichts von ihren Gefühlen für ihn und dabei sollte es auch bleiben. Und sollte er sich auch in sie verliebt haben, bliebe abzuwarten, was daraus würde.
Robin war ihr ins Schlafzimmer gefolgt und beäugte sie kritisch. Sie hatte fast alles durchprobiert, was an Garderobe heute für sie in Frage käme. Das schwarze Kleid hielt er für zu aufdringlich, das beige Kostüm für zu bieder, ein geblümtes Kleid für nicht festlich genug, immer wieder schüttelte er den Kopf oder zog seine Schäferhundschnauze kraus.
Endlich war er einverstanden. Sie hatte sich für eine schwarze Hose mit einer champagnerfarbenen Bluse entschieden, dezent, feierlich und für diesen Anlass passend. Ihre blonden langen Haare flocht sie zu einem französischen Zopf und dezent geschminkt musste sie Robin recht geben. Ihr Spiegelbild gefiel ihr ausnehmend gut.
Nach einer ausgiebigen Schäferhundgassirunde wickelte Helena ihren weihnachtlichen Strauss aus und klingelte an der Tür des einladenden Anwesens.
Peters Frau Simone öffnete die Tür. Helena blickte in ein freundlich lächelndes Gesicht, warme braune Augen waren auf sie gerichtet und mit einer herzlichen Begrüßung bat sie Helena, einzutreten. Simone war von einer umwerfenden grazilen Schönheit und Herzlichkeit, dass es Helena im ersten Moment die Sprache verschlug.
Peter kam strahlend lächelnd auf sie zu und nahm ihr den Mantel ab.
„Ich wusste gar nicht, dass du einen Hund hast. Und dazu noch einen so schönen und gepflegten.“ Auch Simone schien von Robin angetan und kraulte ihn bereits hinter den Ohren.
„Erzählte ich das nicht“? wand sich Helena gekonnt aus der Affäre. „Er lebt die meiste Zeit bei meinen Eltern. Dort im Garten hat er mehr Freude als in meiner Stadtwohnung.“ Sie war froh, dass ihr diese glaubhafte Ausrede eingefallen war. Was hätte sie auch sonst sagen sollen? ‚Er ist mir gestern Abend zugelaufen und das Tollste ist, dass er sprechen kann?’
Außer Helena waren ein befreundetes Pärchen von Simone und Peter und Olaf, ein Cousin von Simone, eingeladen, der gerade mit Begeisterung an seiner Magisterarbeit schrieb und demzufolge liebend gern das Gespräch immer wieder darauf lenken wollte.
Helena fühlte sich auf Anhieb wohl in dieser kleinen Runde. Robin hatte an der Terrassentür Platz genommen und obwohl er so tat, als ginge ihn das alles nichts an, entging ihm keine noch so winzige Kleinigkeit. Weder die verstohlenen Blicke, mit denen Helena Simone beobachtete, noch die deutlichen Blicke von Peter, die oftmals an Helenas Körperstellen hafteten, die für ihn als verheirateter Mann absolut tabu sein sollten. Olaf versuchte immer wieder vergebens, Helena in tiefschürfende Gespräche über deutsche Literaturgrößen zu verwickeln, aber sie unterhielt sich lieber mit Simones Freundin Hannah über gesunde Ernährung und allerneueste Fitnesstrends. Nach einem ausgiebigen Raclette-Essen zogen sich die Männer zu einem edlen Tropfen zurück und den drei Frauen mangelte es nicht an immer wieder aktuellem Gesprächsstoff.
Gegen halb neun verabschiedete sich Helena, bedankte sich für die Einladung und den schönen Nachmittag und Abend und fuhr mit Robin nach Hause. Simones Abschiedsworte klangen noch in ihren Ohren nach. „Ich freue mich, Sie kennengelernt zu haben. Peter ist so von Ihnen angetan. Das Geschäft macht enorme Umsätze, seid Sie da sind. Und ich wollte endlich mal wissen, wer solch ein glückliches Händchen dafür hat. Der Buchladen hat eine lange Familientradition, die Peter sehr am Herzen liegt. Aber es hat nicht so ein Geschick damit. Zum Glück hat er Sie nun und darüber bin ich sehr froh. Ich hoffe, Helena, Sie besuchen und bald wieder mal.“ Als Simone Helena zum Abschied die Hand reichte, glaubte Helena, an Simone ein leichtes Babybäuchlein entdeckt zu haben.
Dass die Ehe nur auf dem Papier bestände, daran hatte Helena erhebliche Zweifel. Peter hatte seine Frau aufmerksam, zuvorkommend und wie ein Gentleman behandelt. Nichts deutete auf eine zerrüttete Ehe hin. Diese Klarheit war zwar schmerzhaft, aber sie ernüchterte Helena schlagartig. Peter war ihr Chef und dabei sollte es auch bleiben!
Sie drehte mit Robin noch eine ausgiebige Runde durch den Stadtpark und ging dann mit ihm heim.
„Du hast dich tadellos benommen, Robin“, lobte sie ihn und gab ihm zur Belohnung ein extra Würstchen.
„Du auch“, erwiderte Robin. „Aber deine Gedanken und Gefühle scheinen bei dir gerade Karussell zu fahren. Kann es sein, dass du in deinen Chef verliebt bist?“
„Und wenn schon, was geht dich das an“,? platzte es lauter aus ihr heraus, als sie es beabsichtigt hatte.
Robin schaute sie ernst an. „Lass die Finger davon. Er sucht nur ein Abenteuer, mehr nicht. Es ist dir wohl nicht entgangen, dass Simone schwanger ist? Ich habe ihn beobachtet, er findet dich attraktiv, ohne Frage, aber das ist nichts Ernstes. Und bei aller Verliebtheit, Helena, bist du über den Auszug von Klaus doch noch gar nicht richtig hinweg“.
Fassungslos schaute Helena Robin an. Woher wusste er das alles? Was befähigte diesen Hund, in ihr Innerstes zu blicken und ihre geheimsten Gefühle zu durchschauen?
Sie mochte Simone und würde gern näher mit ihr befreundet sein, aber das ging nur, wenn sie Peter als ihren Chef und als nichts anderes ansehen würde. Aber das war ihr die Sache wert. Und Robin hatte recht, Klaus beherrschte ihre Gedanken immer noch. Nach seinem Auszug, den er ohne ihr Beisein vollzogen hatte, war ihre Enttäuschung und Trauer in grenzenlose Wut umgeschlagen. Da war noch so viel offen, so viel unausgesprochen. Aber ihr Stolz hatte es ihr nicht erlaubt, ihn anzurufen. So litt sie lieber still vor sich hin, beantwortete sich die eigenen Fragen mit immer wieder neuen Fragen und kam letztendlich keinen Schritt weiter. Ihre Gefühlsebene hatte sich verschoben, von Liebe war nichts mehr übrig.
Am zweiten Weihnachtstag zeigte sich die Sonne in voller Pracht und weckte Helenas Abenteuerlust.
„Lass uns rausgehen und einen langen Spaziergang durch den Wald machen“, schlug sie Robin vor, der freudig mit dem Schwanz wedelte. Sie wollten die Wohnung gerade verlassen, als es an der Tür klingelte.
„Auch das noch“, seufzte Robin und legte sich wieder hin. Das kann dauern!
Verwundert öffnete Helena die Tür und erblickte – Klaus. Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht.
„Duuuu? Du wagst dich noch hierher?“, entfuhr es ihr.
„Darf ich reinkommen?“
„Nein, darfst du nicht. Wie du siehst, bin ich gerade im Aufbruch. Komm Robin, wie gehen!“
„Ich sehe, du hast dich mit einem neuen Hund getröstet“, versuchte Klaus das Gespräch wieder in Gang zu bringen.
„Nicht nur mit einem neuen Hund“, antwortete Helena schnippisch, bemüht, ihre Fassung nicht vollständig zu verlieren.
„Helena, lass uns reden. Ich denke, ich bin dir ein paar Erklärungen schuldig.“
Reinen Tisch machen, Antworten auf ihre Fragen zu bekommen, das lag auch in Helenas Sinn. Sie nahm Klaus Einladung zu einem Cappuccino beim Italiener am Ende der Straße an. Während der folgenden zwei Stunden lag Robin aufmerksam unter dem Tisch, bemüht, dass ihm auch nicht ein Wort entging.
Helena bemühte sich in dem Gespräch um Sachlichkeit. Je mehr sie merkte, dass es Klaus mit dem angeblich größten Fehler seines Lebens wahrhaft schlecht ging, desto ruhiger wurde sie. Seine angebliche Flamme hatte ihn nach kurzer Zeit nach Strich und Faden belogen und betrogen und zu guter letzt hatte sie sich mit dem Geld von seinem Konto ins Nirwana abgesetzt. Es erfüllte sie mit Genugtuung, dass sie ihren langen Leidensweg nun innerlich beenden konnte, während er mitten drin saß. Pech für ihn, er hatte es sich selbst zuzuschreiben.
Sie verabschiedete sich von ihm, kühl und distanziert, ohne einen Funken Mitleid in der Stimme und verließ das Restaurant. Sie fühlte sich gut. Sie konnte das Kapitel Klaus zu den Akten legen.
Sie verbrachte mit Robin unbeschwerte Stunden.
Der Silverstermorgen war angebrochen. Am Ende einer ausgiebigen Gassirunde hielt Helena beim Bäcker an, um sich für die Silvesternacht zwei Pfannkuchen zu kaufen. Sie würde den Abend allein mit Robin und dem Fernseher verbringen. Zwei Einladungen zu einer Silvesterparty hatte sie abgesagt. Sie war noch nicht so weit, als Single inmitten anderer Paare unbeschwert zu feiern.
Sie legte ihr Geld passend auf die Theke und wand sich um, um zu gehen. Unbeabsichtigt rammte sie mit einer Pfannkuchentüte in der einen und einer Brötchentüte in der anderen Hand einen jungen Mann, der dicht hinter ihr gestanden hatte.
„Ich glaube es nicht, Helena! Du bist es tatsächlich!“
Irritiert blickte Helena in zwei tiefblaue Augen und schien darin vollkommen zu versinken.
„Marco? Was machst du denn hier?“ Im gleichen Moment hätte sie sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Was man in einer Bäckerei wollte, war ziemlich offensichtlich.
Die Verkäuferin fragte zum zweiten Mal, diesmal etwas ungeduldig, was denn der junge Herr wünsche.
„Warte auf mich, ich komme gleich.“
Helena ging raus zu Robin, bemüht, ihre Fassung wiederzuerlangen. Wie in Film spulte es sich vor ihrem inneren Auge ab, Marco und sie, eine zärtlich beginnende Liebesgeschichte, als sie beide im ersten Semester an der Uni waren. Sie studierte Bibliothekarswissenschaften und Germanistik, er Jura. Und dann das jähe Ende, als Marco auf Drängen seiner Eltern sein Studium in den USA fortsetzte und beendete. Sie schrieben sich noch eine Weile, aber für Helena war diese Situation eher belastend als erfreulich, und sie brach den Kontakt schweren Herzens am Ende des zweiten Semesters ab.
Sie hatten nie wieder voneinander gehört und sie hatte auch lange nicht mehr an ihn gedacht. Und nun stand er vor ihr, fast so wie sie ihn in Erinnerung hatte. Sein einst volles Haar war ein wenig schütter und grau geworden und die Jahre hatten ihm ein paar Körperpfunde mehr eingebracht. Doch er hatte an Attraktivität nichts eingebüßt.
„Seit wann bist du wieder hier“?
„Seit genau einer Woche. Ich bin an Heiligabend angekommen und werde zum ersten Januar die Kanzlei meines Vaters übernehmen. Mein alter Herr hat sich nun endlich entschlossen, sich zur Ruhe zu setzen und das Zepter aus der Hand zu geben. Ich freue mich so, dich wiederzusehen, Helena.“
„Ich freue mich auch, ehrlich“, antwortete sie leise. In ihrem Inneren begann sich schon wieder alles zu drehen. Peter, Klaus und Marco – das war alles ein wenig viel für sie.
„Sicher hast du heute Abend schon etwas vor?“ fragte Marco, bevor Helena einen klaren Gedanken fassen konnte.
„Ich habe mich noch nicht entschieden, das ist bei mehreren Einladungen nicht so einfach“, flunkerte sie. Nicht auszudenken, was Marco denken würde, wenn er wüsste, dass sie und Robin an solch einem Abend allein zu Hause säßen.
„Bitte, komm heute Abend zu uns, ins Haus meiner Eltern. Bis ich eine eigene Wohnung habe, wohne ich dort. Ich habe einige Freunde aus unserer gemeinsamen Unizeit eingeladen. Du kennst sie alle und sie würden sich bestimmt alle sehr freuen, dich zu sehen. Und ich mich ganz besonders,“ fügte er lächelnd hinzu.
Helena sagte zu, ohne zu überlegen.
Auf dem Heimweg blickte sie Robin liebevoll an, der artig neben ihr hertrottete.
„Seit du da bist, geht es bei mir drunter und drüber, fällt dir das eigentlich auch auf?
„Es wurde Zeit, dass ein wenig Bewegung in dein Leben kommt, findest du nicht?“
Helena hatte noch Zeit, sich ein Stündchen aufs Sofa zu legen.
Bevor sie sich Gedanken um ihre Garderobe machen konnte, schlug Robin ihr das kleine Schwarze vor, in dem sie äußerst sexy und attraktiv aussah.
„Heute Abend bleibe ich aber hier“, meinte Robin beiläufig. So viel Krach ist nichts für meine Hundeohren. Und ich weiß, dass du dich heute bestens amüsieren wirst.“
Nachdenklich blickte Helena Robin an. Sie empfand eine so große Liebe zu ihrem neuen Begleiter, dass sie ihn noch einmal herzlich drückte und streichelte, bevor sie ging.
Kaum hatte Helena das Haus verlassen, machte Robin sich auf seinen Weg. Er wusste, dass Helena in der kommenden Nacht bei Marco bleiben würde und von nun an mit ihm den richtigen Weg einschlagen würde.
Leise machte er die Wohnungstür auf, und machte sich auf den Weg dorthin, wo er hergekommen war, zur Regenbogenbrücke, an deren Ende Trixi schon sehrsüchtig auf ihn warten würde.
Seine Mission auf Erden war beendet.
© aus: G. Bessen: ‚Wenn das Jahr zu Ende geht’ (2014)
Foto: G. Bessen: Australischer Schäferhund