Nichts wie weg ! (4)

Valentina hatte ihren Koffer vor sich abgestellt, die Reisetasche darauf und blickte sich suchend um. Der Omnibusbahnhof von Puerto de la Cruz war voller geparkter Busse, so dass sie Schwierigkeiten hatte, den Eingang von der Straße zu erkennen.

Die Intensität der Nachmittagssonne hatte einen leichten Schweißfilm auf ihrer blassen Haut zurückgelassen und sie sehnte sich nach dem langen Flug und der Busreise vom Süden in den Norden nach einer lauwarmen Dusche und leichterer Kleidung.

Ein Auto kam auf sie zu und hielt mit quietschenden reifen vor ihr. Eine junge Frau mit blonden langen Haaren, roten Caprihosen und einer weißen ärmellosen Bluse riss die Fahrertür auf und stürzte lachend auf Valentina zu.

„Ich glaube es nicht, du hast es tatsächlich geschafft! Willkommen auf Teneriffa!“

Valentina und Nora lagen sich lange in den Armen. Es war fast fünf Jahre her, dass sie sich das letzte Mal gesehen hatten.

„Ich habe auch das Gefühl, völlig über mich hinaus gewachsen zu sein. Aber jetzt bin ich so froh, endlich hier zu sein.“

„Komm, lass uns fahren.“

Valentina und Nora waren in ihrer Schulzeit unzertrennlich. Nach dem Abitur hatten sie sich Geld verdient, um für zwei Monate gemeinsam die Kanarischen Inseln zu bereisen. Während Valentina eine Ausbildung zur Erzieherin machte, wurde Nora Fotografin und war viel in der Welt unterwegs. Als Autorin von bebilderten Reiseführern verdiente sie gutes Geld.

Eines Tages überraschte sie Valentina mit der Nachricht, dass sie sich verliebt hatte und nach Teneriffa auswandern würde. Was Nora plante, hatte Hand und Fuß und wenige Monate später eröffnete sie mit ihrem einheimischen Freund Jose ein kleines Hotel mitten in der Altstadt von Puerto de la Cruz. Tradition war beiden wichtig. Somit stach das Hotel in seiner typisch kanarischen Bauweise von allen anderen Häusern deutlich ab und war ein guter Tipp für alle, die die kanarische Küche liebten.

Valentina stand der Mund offen, als sie vor dem schmucken Hotel ankamen.

„Ist das schön!“ , entfuhr es ihr.

Nora hatte ein hübsches und von Licht durchflutetes Zimmer für ihre Freundin ausgesucht.

„Ich erwartet noch einige Gäste, aber in etwa einer Stunde bin ich nur für dich da. Jose freut sich auch schon auf dich.“

Valentina goss sich ein Glas des Willkommensektes aus der Minibar ihres Zimmers ein, setzte sich auf den Balkon und betrachtete die tief verschneite Spitze des Pico del Teide. Diese wunderbare Insel bot alles zu dieser Jahreszeit: Schnee in den Bergen, ein Atlantik, der noch Badetemperaturen hatte, eine Vegetation, die so grün und üppig ihresgleichen suchte und freundliche und nette Menschen, die diese Insel bewohnten.

© G.Bessen 12/13

Nichts wie weg! (3)

Christian verstand die Welt nicht mehr. Valentina schien wie vom Erdboden verschluckt. Zu Hause meldete sich mit konsequenter Hartnäckigkeit der Anrufbeantworter, auf dem Handy die Mailbox und in der Kindertagesstätte  erreichte er am Sonntag natürlich niemanden. Er hatte sich das so schön vorgestellt, am vierten Advent mit ihr noch einmal über den Weihnachtsmarkt zu bummeln und sie anschließend zum Essen einzuladen. Und nun stand er vor ihrer Haustür und sah ihren Wagen auf dem Parkplatz stehen. Von Valentina jedoch keine Spur. Bevor er sich vor der Tür länger die Beine in den Bauch stand, beschloss er, in der Wohnung auf sie zu warten. Weit weg konnte sie ja nicht sein. Was für ein folgenschwerer Irrtum!

Er zog die Hausschlüssel aus der Hosentasche, schloss die Eingangstür auf und war gerade im Begriff, die Wohnungstür im zweiten Stockwerk aufzuschließen, als sich nebenan die Nachbartür öffnete und Sabine, Valentinas Nachbarin und bedeutend ältere Freundin, mit einem Müllbeutel aus der Wohnung trat.

„Hallo Sabine, ich suche Valentina. Ist sie bei dir?“ Vom vertrauten Klang seiner Stimme angelockt, kam Valentinas schwarzer Kater aus Sabines Wohnung geschossen und schmiegte sich an sein rechtes Bein.

„Guten Tag, Christian. Nein, Valentina ist nicht bei mir. Magst du reinkommen? Ich habe gerade frischen Kaffee gekocht“.

Christian sog den Duft nach frisch gebackenen Plätzchen und frischem Kaffee gierig in sich rein.

„Aber gern. Ich wollte sowieso auf Valentina warten und aus deiner Wohnung duftet es so weihnachtlich.“

Er machte es sich auf dem alten Holzstuhl in der Küche bequem. Moritz, der Kater, rollte sich in seinen Schoß und begann sofort zu schlafen. Christian  legte seine kalte Hände um den Kaffeepott mit dem dampfenden heißen Kaffee und schaute Sabine erwartungsvoll an.

„Greif zu“, bemerkte sie freundlich und schob ihm eine Glasschale mit frisch gebackenen Kokosplätzchen hin. Das ließ sich Christian nicht zwei Mal sagen.

Wieder richtete er seinen Blick erwartungsvoll auf Sabine, in der Hoffnung, sie würde des Rätsels Geheimnis sogleich lüften.

Sabine blickte Christian nachdenklich an. „Auf Valentina brauchst du nicht zu warten. Sie ist weggefahren und kommt erst in knapp drei Wochen wieder. Deshalb ist Moritz auch bei mir.“

Christian blickte voller Erstaunen erst zu Moritz, als sähe er ihn jetzt erst bewusst, dann zu Sabine. „Weggefahren? Wohin?“

„Sie macht Urlaub auf Teneriffa“, antwortete Sabine in gleichmütigen Ton, als sei das das Selbstverständlichste von der Welt.

„Das glaube ich jetzt nicht! Weiter weg ging es wohl nicht!!“, entfuhr es Christian nach einer Weile, in der Sabines Worte gesackt waren. „Es ist doch Weihnachten“.

„Weihnachten ist überall, auch auf Teneriffa. Ich kann Valentina gut verstehen. Bis vor drei Jahren habe ich es jedes Jahr so gemacht und bin Weihnachten auf Bali gewesen. Seit meine Mutter so krank geworden ist, bleibe ich hier, ich möchte sie an Weihnachten ungern alleine lassen.“

Christian schwieg. Es schien, als würde das Gehörte sich nur stückweise seinem Bewusstsein erschließen. „Warum hat sie mir denn nichts gesagt?“ Sein Ton war schärfer und lauter als beabsichtigt. „Du hättest es nicht verstanden. Du bist so ein Familienmensch, der Weihnachten seine Familie um sich haben möchte  und wenn noch ein Stück Zeit davon übrig bleibt, dann hat die Partnerin ihren Platz darin. Diese Erkenntnis hat Valentina sehr zu schaffen gemacht. Deshalb hat sie diese Entscheidung getroffen und möchte auch nicht, dass du sie im Urlaub anrufst. Wenn du meine persönliche Meinung dazu hören willst: ihr seid seit einem Jahr ein Paar. In eurem Alter haben andere schon eine eigene kleine Familie. Weihnachten mit den Eltern und Geschwistern zu verbringen, da hat niemand etwas gegen. Im Gegenteil, aber als Erwachsene sollten die Partner die erste Geige spielen und in den meisten Fällen werde auch die Familien einbezogen. Als ich in eurem Alter war, haben Manfred und ich meine und seine Familie zu Heiligabend immer dabei gehabt. Daran denke ich heute gern zurück. Meine Reisen nach Bali kamen erst später, lange nach Manfreds Tod. meine Eltern waren noch rüstig und ich fühlte mich ohne Manfred an Weihnachten hier fehl am Platz.“

Christian war still geworden. Seine Schultern fielen nach vorne und er sah bekümmert aus.

„Da kann ich also gar nichts weiter machen, als abzuwarten, bis Valentina im neuen Jahr irgendwann erholt von Teneriffa zurückkehrt?“

„Ich fürchte nein“, antwortete Sabine. „Vielleicht ist das die Gelegenheit, dass jeder von euch beiden über den Stellenwert eurer Beziehung in eurem persönlichen Leben nachdenkt.“

©  G. Bessen  12/13

Nichts wie weg! (2)

Valentina machte es sich in dem Bus bequem, der sie vom Flughafen in die nördliche Stadt Puerto de la Cruz bringen sollte. Das gleichmäßige Fahren auf der Autobahn beruhigte sie und ließ die Geschehnisse der letzten Tage noch einmal vor ihrem inneren Auge Revue passieren. Es war viel geschehen, der Streit mit ihren Eltern, die hässliche Auseinandersetzung mit ihrem Freund Christian und ihr konsequentes Buchen des Fluges und ihr Aufbruch.

Warum wollte sie niemand verstehen? Warum konnte niemand begreifen, dass sie nach wochenlangen Vorbereitungen in ihrer Kindertagesstätte und mit ihrer Mutter keine Lust mehr auf Weihnachten hatte? Im Kindergarten hatten sie drei Wochen lang jeden Tag mehrere Stunden  gebastelt, Baumschmuck aus bunter Folie, filigrane Strohsterne, Bilder für Mama und Papa, Oma und Opa  getuscht, Wunschzettel geschrieben, Kekse gebacken, Weihnachtslieder und Weihnachtsgedichte einstudiert und zum Adventskaffee mit den Eltern vorgetragen, ja, selbst die Weihnachtsfeier im Team hatte sie geduldig über sich ergehen lassen.

In ihrer begrenzten Freizeit war sie stundenlang mit ihrer Mutter durch die Geschäfte gehetzt, um Weihnachtsgeschenke für Opa Willi und Oma Hanni,  ihren Vater und ihre beiden jüngeren Geschwister zu kaufen. Vor den Adventssonntagen hatte sie mit ihren Geschwistern geduldig Teig bereitet, ausgerollt, verschiedene Motive  ausgestochen, Kekse gebacken und anschließend verziert.

Mit Christian war sie auf mehreren Weihnachtsmärkten in der Stadt gewesen, hatte sich mit den Schlangen von Menschen von einem zum anderen Stand mit Kunsthandwerk schieben lassen, sich zwischendurch mit Glühwein und Bratwurst fit gehalten.

Und dann der ultimative Knall zwischen den beiden: Wann sind wir wo? Valentina fühlte sich verpflichtet, wie immer den Heiligen Abend bei ihrer Familie zu verbringen und Christian bei seiner. Im ersten Jahr ihrer ganz frischen Beziehung waren sie beide sehr tolerant und haben den jeweils anderen in seinem Wunsch akzeptiert und respektiert, aber nun waren sie über ein Jahr zusammen und das Bedürfnis nach einem eigenen gemeinsamen Heiligen Abend war da. Bei Valentina offenbar mehr als bei Christian. Valentina war durchaus der Meinung, dass niemand zu kurz käme, wenn man genau plante, mit den jeweiligen Eltern spräche und niemand zu kurz käme. Christian  erklärte ihr in seiner ihm eigenen Logik, wenn die Verwandtschaft, die am ersten Feiertag zum Gänsebratenessen geladen war, gegangen  war, blieb ihnen noch der gemeinsame Abend des ersten und der ganze zweite Weihnachtsfeiertag.

Valentinas Eltern hätten sich mit einem gemeinsamen, aber verkürzten  Heiligabend zufrieden gegeben, aber sie waren natürlich nicht abgeneigt, ihre älteste Tochter den ganzen Abend, über Nacht und  auch am ersten Feiertag bei sich zu haben, zumal die Großeltern mittags erwartet würden und eine helfende weibliche Hand in der Küche gern gesehen wäre.

Und schließlich sähen die beiden Nachkömmlinge, die Zwillingsschwestern Luise und Lotte, ihre große Schwester auch nicht allzu oft.

Als Valentinas Vater nebenher bemerkte, dass Liebe auch Verzicht bedeute, hatte es sich bei Valentina ganz schnell ausgeweihnachtet.

Sie war Mitte zwanzig, stand beruflich auf festen Füßen, hatte eine eigene Wohnung und auch ein Recht, ihr Leben als Erwachsene selbst zu gestalten, zumal andere in ihrem Alter oft schon eine eigene kleine Familie hatten. Nur, weil man noch nicht verheiratet war, musste man nicht ewig Kind sein und sich ausschließlich den elterlichen Wünschen fügen. Plötzlich fand sie Christian außerordentlich spießig und altbacken und fragte sich, ob er wirklich der Richtige für ihr weiteres Leben sei. Sie sah ihn schon an Heiligabend mit einem Rollkragenpullover und einer Buntfaltenhose unter dem Weihnachtsbaum mit einer elektrischen Eisenbahn spielen, bis Mama zum Essen bat.

Es kostete sie einige Anrufe und was sich zuerst als eine recht nebulöse Vorstellung in ihrem Hinterkopf entwickelt hatte, wurde innerhalb von vierundzwanzig Stunden ein fester Plan.

Sie hatte so viele Überstunden, dass daraus eine extra Urlaubswoche entstand. Mit den Feiertagen und den Tagen zwischen den Jahren kam sie auf knapp drei Wochen Urlaub.

Ihre Eltern reagierten erwartungsgemäß mit einer Enttäuschung, die ihresgleichen suchte. Aber nach stundenlangen Diskussionen bemühten sie sich wenigstens um Verständnis und gaben ihrer Tochter den vorweihnachtlichen Reisesegen.

Nur einer wusste nichts von Valentinas Plänen und ihrem Verschwinden – ihr Freund Christian. Sie teilte zwar sehr häufig das Bett mit ihm, aber noch nicht die Wohnung. Er würde schon dahinter kommen, dass sie nicht da ist. Damit umzugehen war erst mal nicht ihr Problem.

©G. Bessen 12/13

Nichts wie weg! (1)

Valentina schloss sorgfältig die Haustür ab, wuchtete ihren schweren Koffer und ihre Reisetasche in den Fahrstuhl und stellte sich mit hochgezogenem Mantelkragen an die Straße. In wenigen Minuten würde ihr Taxi kommen. Dann öffnete sie ihre Handtasche, holte sich eine Zigarette und das Feuerzeug heraus und spürte nach den ersten Zügen, dass sich ihre vibrierenden Nerven langsam beruhigten. Kurz darauf hielt neben ihr das bestellte Taxi. Ein freundlich blickender Wuschelkopf stieg aus und packte die beiden Gepäckstücke  mit Schwung in den Kofferraum. „Na, junge Frau, wo soll´s denn so früh schon hingehen?“ fragte er munter. „Zum Flughafen, bitte“, gab sie etwas distinguiert zurück. Grauenvoll, diese Menschen, die mitten in der Nacht schon Bäume ausreißen können, gut gelaunt und redselig sind’ schoss es ihr durch den Kopf. Sie lehnte sich in den bequemen Rücksitz des Daimler S 500 und schloss die Augen  in der Hoffnung, der freundliche Taxifahrer verwickele sie nicht noch in ein Gespräch über ‚Morgenstund  hat Gold im Mund’ oder so etwas ähnliches. Das brauchte sie jetzt so dringend wie ein Loch im Kopf.

Valentina blickte aus dem Autofenster ohne bewusst auf etwas zu achten. Es war noch früh am Morgen, trotzdem waren schon viele Menschen unterwegs. Auch auf den Straßen war bereits lebhafter Verkehr, der den Taxifahrer hin und wieder zu leisem Schimpfen verleitete. Sein Fahrgast wünschte keine Unterhaltung, „Schade“ – dachte er, während er sie im Rückspiegel verstohlen  beobachtete.

Was er sah gefiel ihm ganz gut. Sie hatte lebendige, grüne Augen, die gut zu ihrer roten Haarmähne passten. Nur blickten diese Augen gerade missmutig aus dem Fenster. Ihre Lippen hatte sie fest zusammengepresst. Irgend etwas musste die junge Frau beschäftigen. Leider musste sich Daniel wieder auf den Verkehr konzentrieren, der in der Nähe des Flughafens noch zunahm. Trotzdem musste er immer wieder in den Rückspiegel sehen. Valentina bemerkte seine Blicke und verzog das Gesicht. Demonstrativ sah sie weiter aus dem Fenster. Ihre Körperhaltung signalisierte Abwehr.
Endlich hielt das Taxi an. Daniel spurtete um das Auto und wollte Valentina   die Tür öffnen, doch die war schon ausgestiegen. Ihm blieb nichts weiter übrig, als den Kofferraum zu öffnen und der jungen Frau  ihr Gepäck zu übergeben. Sie  fischte das nötige Kleingeld aus der Tasche und drückte es Daniel in die Hand. „Reicht das?“, fragte sie schnippisch. Daniel nickte und Valentina  stolzierte hocherhobenen Hauptes Richtung Flughafeneingang. Sprachlos schaute er ihr nach. Sollte er sie gehen lassen? Daniel fuhr sich mit beiden Händen durch seine dunkelbraunen Haare und überlegte, ihr als wohlerzogener Mann das Gepäck  bis zum Abfertigungsschalter zu tragen. Sie war schon fast an der Tür, als jemand laut ihren Namen rief. Fragend sah sie sich um und erstarrte. Das konnte doch nicht wahr sein. Entsetzt ließ sie ihr Gepäck  fallen. Durch den Aufprall öffnete sich der  Koffer und sein Innenleben ergoss sich über den Fußboden.

Bunte Sommershirts, kurze Hosen, ein Bikini, diverse Dessous, Unterwäsche, Badetücher und Sommersandaletten ergossen sich quer über den Steinboden, inmitten einer eiligen Menge eiliger Füße. Valentina sah entsetzt auf den verstreuten Inhalt ihres Koffers und jappte entsetzt auf. „Auch das noch! So ein Scheißtag.“ Das war seine Gelegenheit. Daniel sprintete so schnell er konnte in ihre Richtung, bückte sich und sammelte die verstreuten Utensilien wieder ein. Nur aus den Augenwinkeln bemerkte er den Mann, der sich Valentina  mit fragendem Blick näherte. „Das ist aber eine Überraschung, dich hier zu treffen. Wo soll´s denn hingehen?“ fragte er neugierig. Sie  fühlte sich in dieser Lage völlig überfordert. Vor ihr auf dem Boden kroch ein wildfremder Taxifahrer und sammelte ihre geheimste Utensilien in aller Öffentlichkeit ein und vor ihr stand ein One-Night-Stand, dessen Existenz sie längst aus ihrem Bewusstsein verbannt hatte.

Warum konnte man sich nicht einfach in Luft auflösen? Valentina widerstand der Versuchung, laut zu schreien und sich die Haare zu raufen. Manche Tage bestanden nur aus Nerven tötenden Momenten. Erst das Drama mit ihrer Familie und den Streit wegen Weihnachten…   sie wollte gar nicht mehr daran denken. Daniel hatte mittlerweile sämtliche Kleidungsstücke aufgesammelt und in den Koffer gequetscht. Er konnte sich nach seiner Hilfsaktion ein Grinsen nicht verkneifen. Sicher würde die junge Dame in dem einen oder anderen Teilchen sehr verführerisch  aussehen. Leider schaute Valentina  genau in diesem Moment in Daniels Gesicht. Grimmig riss sie ihm den Koffer aus der Hand und stürmte in das nächste Restaurant. Da ihr Flieger erst  später startete, hatte sie noch etwas  Zeit. Beide Männer schauten ihr verblüfft hinterher. Daniel sah auf seine Uhr, denn langsam musste er mal wieder an andere Fahrgäste denken. „Ich habe noch zu tun“, murmelte er in eine unbestimmte Richtung und stiefelte zu seinem Taxi. Nun stand nur noch Valentinas  One-Night-Stand vor der Eingangstür des Flughafens. Er dachte an die wenigen, aber unvergesslichen Stunden, die ihn und sie  verbanden. Eigentlich hatte er sie noch gar nicht richtig kennen gelernt. Das konnte man sicher nachholen. Sie  saß bereits  mit ihrem Gepäck grübelnd im Restaurant. Ihre Gedanken waren ebenfalls bei dieser schon lange vergessenen Nacht. Ihr fiel noch nicht einmal der Name ihrer Bettbekanntschaft ein. Sie  stöhnte, als sich die Tür öffnete, und genau diese Bekanntschaft den Raum betrat.

Oh nein! Wo ist das berühmte Loch im Erdboden?’ stöhnte sie innerlich und kreiste meditativ mit dem Löffel im Uhrzeigersinn durch ihre Kaffeetasse. Warum musste ausgerechnet dieser Typ hier auftauchen? Sie wollte nur weg, alles hinter sich lassen und sich ein paar Wochen in  einem kleinen Hotel auf Teneriffa  ausruhen. Sie beschloss, ihre ganze Aufmerksamkeit dem dampfenden Kaffee zu widmen, bis ihr Flug aufgerufen würde. Der Typ musste ja schließlich merken, dass er gerade höchst unwillkommen war. Sie unterbrach ihre Meditationsübung, setzte die Tasse an den Mund und erfasste mit einem kurzen Rundumblick die Situation. Da saß er, drei Tische weiter, biss herzhaft in ein Käsebrötchen und war so damit beschäftigt, dass sie in Sekundenschnelle ausrechnete, wie lange sie zum Restaurantausgang bräuchte. Eine Frau – ein Gedanke – eine sinnvolle Tat! Den erstaunten Blick ihres Lovers registrierte sie noch aus den Augenwinkeln, als sie mit ihrem Gepäck das Restaurant verließ und sich in die nächst gelegene Flughafentoilette begab.

Valentina  holte tief Luft. Sie schaute in den Spiegel und schüttelte den Kopf. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Ihr stand der Sinn nach Urlaub unter Palmen, Urlaub mit Sonne und Meer. Wieso musste das Leben nur so kompliziert sein?

 „Letzter Aufruf für die Passagiere nach Teneriffa. Bitte kommen Sie zum Flugsteig 19“, tönte es aus dem Lautsprecher. Sie nahm ihr Gepäck, ungeachtet ihres Lovers und eilte zum Flugsteig. Wenig später lehnte sie sich in ihren Sitz zurück, schloss die Augen und wartete nur darauf, dass die Maschine ihre Starterlaubnis bekam und sie weit, weit weg brachte. Valentina  flog nicht gerne. Als sie ein junges Mädchen war, machte ihr das gar nichts aus. Ihr Vater war beruflich viel unterwegs gewesen, und wann immer sie es einrichten konnten, flogen Valentina  und ihre Mutter mit. Sie war viel in der Welt herumgekommen, hatte später nach dem Abitur Sprachen studiert und eine bedeutende Karriere als Fremdsprachenkorrespondentin gemacht. Mit geschlossenen Augen, hämmerndem Puls, blass bis unter die Haarspitzen, die feuchten Hände aneinander gepresst, wartete sie darauf, dass die Maschine ihre Flughöhe erreichte. Erst dann öffnete sie vorsichtig die Augen und merkte, dass ihr Innenleben sich langsam wieder normalisierte. Während des Fluges hatte sie sich dann soweit entspannt, dass die Landung zwar beschwerlich, aber gerade zu überstehen war, ohne gesundheitliche Schäden zu hinterlassen.

Sie war nun da, wo es ihr sicher besser gehen würde, auf der schönsten Insel der Kanaren. Fern ab von vorweihnachtlichem Rummel, überzogenen Erwartungshaltungen der Eltern, einem Freund, der ebenso spießig wie seine Eltern Weihnachten mit Geschenken und allem kulinarischen Brimborium unter dem geschmückten Weihnachtbaum verbrachte.

Als sie mit ihrem Gepäck den Flughafen verließ, spürte sie eine ungeheuerliche Leichtigkeit und der Kloß in ihrem Inneren, der sich seit Wochen wie ein Mühlstein angefühlt hatte, war wie weg geblasen.

 © G.Bessen  12/13

Wie im Märchen (Fortsetzung)

WeihnachtsmannSimon leerte eine Flasche Rotwein und packte sich ins Bett. An Schlaf war allerdings kaum zu denken. Immer wieder erschienen Julia und diese andere Frau vor seinem inneren Auge.

Welches Spiel spielte Julia mit ihm? Wollte sie ihn vor aller Welt lächerlich machen? Irgendwann gegen Morgen verfiel er in einen unruhigen Schlaf und wurde um sieben Uhr vom Klingeln seines Handys geweckt.

„Guten Morgen, mein Schatz. Hast du gut geschlafen?“ „Julia“, krächzte es aus ihm heraus. „Wie war deine Weihnachtsfeier?“ „Sie war ganz nett und  feucht-fröhlich, aber da ich gleich zum Dienst muss, bin ich nicht so lange geblieben. Sehen wir uns heute Abend bei mir, so gegen neunzehn Uhr?“ säuselte ihre zarte Stimme in sein verschlafenes und gleichzeitig hellwaches Ohr. „Ich werde da sein.“

Simon war so aufgeregt, dass er kaum eine Bissen hinunter bekam, obwohl das Essen vorzüglich schmeckte. Nach so einem opulenten Mahl hatten sie beschlossen, noch einen Winterspaziergang zu machen. Während Julia unter der Dusche stand, nahm Simon den Bilderrahmen vom Nachttisch, löste die Klammern, nahm das Foto heraus und drehte es um: Julia und Clarissa, Rhodos 2009 . Diese Information brachte ihn nicht wirklich weiter. Clarissa war zwar kein Allerweltsname, aber er konnte doch nicht das Telefonbuch nach irgendeiner Clarissa absuchen. In Julias Schreibtischschublade fand er ihr Adressbuch.

Das könnte ihm eventuell weiterhelfen: C. Hartmann,  Am Torbogen 8…..

Die Straße ‚Am Torbogen’  kannte er gut. Sie lag am Rande der Altstadt und gehörte mit ihren restaurierten Häusern und den großen Altbauwohnungen zur beliebtesten, aber auch teuersten  Wohngegend der Stadt. Gleich morgen früh wollte er dorthin fahren und verabschiedete sich unmittelbar nach dem Spaziergang von Julia.  Er täuschte Kopfschmerzen vor und ihm entging nicht, dass sie enttäuscht war. Ihm war ganz und gar nicht danach, unter diesen Umständen die Nacht mit ihr zu verbringen. Diese Einsilbigkeit kannte Julia von Simon gar nicht, aber sie hielt ihn nicht davon ab, in sein Hotelzimmer zurückzukehren.

Nach einer weiteren, fast schlaflosen Nacht, machte sich Simon am folgenden Morgen auf den Weg. Gegenüber der Hausnummer 8 war ein gemütliches Studentencafe. Er hatte noch nicht gefrühstückt und  nahm einen Fensterplatz ein. So hatte er den Hauseingang direkt im Blick. Auf einmal kam er sich wie ein dummer Schuljunge vor. Was hatte er hier eigentlich zu suchen und was versprach er sich?  Vielleicht traf er Clarissa an und dann? Er konnte sich ja schlecht mit ihr duellieren oder sie herausfordern, die Finger von Julia zu lassen.

Eine tiefe Eifersucht quälte ihn. Er war bedeutend älter als Julia und hätte ihr Vater sein können, aber dass sie ihn mit einer Frau betrog, wollte ihm nicht in den Kopf. Was gab sie ihr, was er ihr nicht geben konnte? Er lachte bitter vor sich hin.

In einem seiner Kriminalromane hatte ein Homosexueller seinen Liebhaber umgebracht und bei der Buchpremiere hatte Simon sich gebrüstet, wie tolerant er  der gleichgeschlechtlichen Liebe gegenüber war. Aber nun, da es an die eigene Substanz ging, sah er die Welt plötzlich in einem ganz anderen Licht.

Er zahlte und ging zielgerichtet über die Straße.  C. und J. Hartmann stand auf dem Namensschild. Verwirrt drückte er auf den Knopf und ein Summton ließ die Tür aufspringen. Er ging hoch in die zweite Etage. Die Wohnungstür war nur angelehnt. „Moment, ich komme sofort…“, hörte er eine helle Frauenstimme. Im Türrahmen erschien eine junge Frau mit hochgesteckten Haaren, die ihn freundlich und erwartungsvoll anschaute. Auf ihrem rechten Arm saß ein etwa zweijähriger Junge mit schokoladenverschmiertem Gesicht und  musterte ihn. „Ja bitte?“, fragte die junge Frau. Simon räusperte sich und wünschte sich ganz weit weg. Diese junge Mutter in schwarzen  Leggins und einem langen gelben  T-Shirt hatte bestimmt Besseres zu tun, als sich mit seinen bohrenden Eifersüchteleien auseinander zu setzen.

„Bitte entschuldigen Sie die Störung, ich bin auf der Suche nach einer Tante, die hier einmal gewohnt hat. Ich habe den Kontakt zu ihr verloren und dachte, ich fange hier an. Wohnen Sie schon lange hier?“

„ Wir wohnen seit vier Jahren hier und wer vor uns in der Wohnung gewohnt hat, kann ich ihnen beim besten Willen nicht sagen. Als mein Mann und ich die Wohnung besichtigt haben, war sie unbewohnt und frisch renoviert. Warum versuchen Sie es nicht über das Einwohnermeldeamt?“

Simon starrte die junge Frau an. Vier Jahre schon…Mann…ein Kind… . Das konnte unmöglich die Clarissa sein, die er suchte.

„Maaaamiii“, ertönte es plötzlich weinerlich aus der Wohnung. Die junge Frau drehte sich um. „Kommen Sie herein, meine beiden Kinder sind krank und ich will nicht, dass sie sich noch mehr einfangen.“

Simon folgte ihr. Mit einem Kopfnicken deutete sie auf eine große Wohnküche und bedeutete ihm, dort Platz zu nehmen.

„Schätzchen, ich komme ja schon. Hast du schlecht geträumt?“

Ein etwa vierjähriges Mädchen mit zerzausten Locken stand in ihrem Schlafanzug am Ende des langen geräumigen Flures. Tränen liefen ihr über die Wangen.

Simon nahm in der Küche Platz und schaute aus dem Küchenfester direkt auf das Cafe, in dem er vorhin gefrühstückt hatte. Die junge Frau kam zurück und musterte ihn mit wachen und interessierte Augen. „Möchten Sie einen Kaffee? Er ist ganz frisch.“ Simon nickte, obwohl er schon Herzklopfen genug hatte. Sie schenkte ihm den dampfenden Kaffee ein, schob ein Milchkännchen und eine Zuckerdose vor ihn und setzte sich.

„Und nun sagen Sie mir, warum Sie wirklich hier sind. Ich weiß, wer Sie sind und kann mir auch denken, warum Sie mich aufgesucht haben.“

„Ich habe Sie zusammen mit Julia gesehen und war unfreiwillig Zeige einer sehr intimen Begegnung zwischen Ihnen beiden.“

„Und das hat Sie schockiert und Ihre männlichen Grundfesten ins Wanken gebracht, habe ich recht?“

Zum ersten Mal hatte Simon einen Hauch von Lächeln auf dem Gesicht und entspannte sich zunehmend.

„Ja, da liegen Sie gar nicht so falsch. Ich hätte nie im Traum daran gedacht, dass Julia mich betrügt und schon gar nicht mit einer anderen Frau.“

„Nun, das ist eine Sache der Definition, meinen Sie nicht? Was heißt betrügen?  So wie ich Ihnen nichts wegnehme, nimmt Julia meinem Mann nichts weg.“

„Vielleicht denke und empfinde ich anders als Sie, das mag an unserem Altersunterschied liegen.  Für mich sind Treue und Vertrauen untrennbar miteinander verbunden. Und wenn Julia mir nicht treu ist, hat sie mein Vertrauen missbraucht.“

„Und das sagen Sie, nachdem Sie ihre Frau mit Julia betrogen haben?“

Simon spürte, wie er verlegen wurde. Die junge Frau ihm gegenüber war glatt wie ein Fisch, er konnte sie nicht packen.

„Sie wissen ja bestes über mich Bescheid“, kam es ein wenig zu sarkastisch über seine Lippen. „Ich habe aber die Konsequenzen gezogen und meine Frau verlassen.“

„Werden Sie das von Julia auch verlangen?“ kam die Frage seines Gegenübers.

„Ich habe nichts das Recht dazu und … .“

„Stimmt und Sie würden es auch nicht erreichen. Zwischen Julia und mir besteht seit Jahren eine tiefe Liebe, die kein Mann  je zerstören kann. Wir waren sogar zwei Jahre miteinander verheiratet. Trotzdem haben wir uns für einen männlichen Partner entschieden und das soll auch in Zukunft so bleiben. Wir wollten immer eine Familie haben. Da bin ich Julia voraus.  Ich liebe meinen Mann und meine Kinder über alles. Mein Mann weiß nichts von der Tiefe und dem Ausmaß der Beziehung zwischen Julia und mir. Er hält sie für meine beste Freundin, mehr nicht. Warum sollte ich ihm auch mehr erzählen? Er würde es nicht verstehen, es würde ihn eher verletzen.

Versuchen Sie, sich von ihren Besitzansprüchen und ihren Vorstellungen von Treue und Moral freizumachen, um die Beziehung mit Julia unbeschwert zu genießen. Ich weiß, dass Julia sie liebt, doch sie liebt nicht nur Sie.“

Simon schnürte es die Kehle zu. Er konnte das alles für sich noch nicht sortieren und hatte plötzlich das Bedürfnis, alleine zu sein.  Er merkte, dass Clarissa eine starke Frau war, gegen die er scheinbar in seiner Verwirrtheit nichts ausrichten konnte. Er musste für sich überlegen, wie es weitergehen sollte.

Aber eines wurde ihm klar: er konnte seinen Roman weiterschreiben, nicht als die Liebesgeschichte zwischen Julia und ihm, sondern als eine viel pikantere mit einer neuen Gespielin, die unmittelbar ins Geschehen eingebrochen war. Das zumindest war er seinen Leserinnen und Lesern schuldig.

 © G. Bessen 12/13

Wie im Märchen…

WeihnachtsmannBevor er mit der Lesung seines neuen Kriminalromanes begann, schweifte sein Blick durch den Saal. Zufrieden registrierte er, dass alle Plätze belegt waren. Er konnte beginnen. Mit ein paar einleitenden Worten begrüßte er die Zuhörer, bedankte sich für ihr Kommen und versprach ihnen eine halbe Stunde Unterhaltung mit Gänsehautgarantie.

So kannte man ihn, Simon P., den erfolgreichen Autor spannender Kriminalromane, dessen Bücher die Bestsellerlisten beherrschten. Gerade fünfzig geworden, gut aussehend, schlank und durchtrainiert war er auf dem Höhepunkt seiner Karriere angekommen.

Während der nächsten dreißig Minuten war der Saal erfüllt von seiner angenehmen tiefen  Stimme mit dem  österreichischen Akzent. Auch dieses Buch würde ein Erfolg werden, das zeigte ihm der nicht enden wollende Applaus, nachdem er seine Lesung beendet hatte. Zufrieden lächelnd schweifte sein Blick durch den Saal.

Wie ein Blitz durchzuckte es ihn, als seine Augen sich mit ihren trafen. Braune sanfte Augen in einem makellos schönen Gesicht, umrahmt von schwarzen langen Haaren, versanken in seinen Augen. Nur schwer konnte er sich von ihrem Anblick lösen. Während er seine Bücher signierte, schaute er immer wieder suchend durch den Raum.

„Für Julia, bitte“. Er spürte, dass sie es war, die ihn um diese Widmung bat und sah sie lächelnd an. „Gerne.“  Die Schlange hinter Julia schien endlos und ohne weiter darüber nachzudenken, setzte er seine Handynummer unter seinen Namen.
„Danke“, flüsterte sie, nahm das Buch aus seiner Hand und verabschiedete sich mit einem langen innigen Blick von ihm.

Drei endlos scheinende Tage spannte sie ihn auf die Folter, bis sie ihn anrief. Sein Leben begann sich zu verselbständigen, er hatte keine Kontrolle mehr über sich. Er belog und betrog seine Frau, um jede freie Minute mit Julia zu verbringen. Sein viel versprechender neuer Kriminalroman blieb in den Anfängen stecken. Zum ersten Mal in seiner schriftstellerischen Laufbahn hatte er eine Schreibblockade.

Julia hatte Gefühle in ihm geweckt, die er noch nie verspürt hatte. Sie stellte sein bisheriges Leben komplett auf den Kopf. Nach vier Wochen eröffnete er seiner Frau, dass er ausziehen werde. Sie machte ihm keine Szene, wie er erwartet hatte. Sie bewahrte die Fassung, bis er mit seinem Koffer, zwei Reisetaschen und seinem Laptop die Villa  verlassen hatte. Dann brach sie weinend zusammen und reichte am nächsten Tag die Scheidung ein. Das war für sie die letzte Eskapade, die sie ertragen konnte.

Er zog in ein Hotel.

Julia war Krankenschwester in einer Herzklinik. Wenn sie Dienst hatte, nutzte er die Zeit für einen neuen Roman, seinen ersten Liebesroman, die Geschichte von Julia und ihm, „Wie im Märchen“, sollte der Titel lauten. Und genau das war es für ihn, ein Märchen. Julia hatte ihn verzaubert, seinem Leben einen völlig neuen Sinn gegeben. Er machte sich keine Gedanken darüber, dass er fast zwanzig Jahre älter war und ihr Vater sein konnte. Auch darüber, dass der Traum von heute auf morgen enden könnte, wenn Julia einen anderen kennenlernen würde. Er genoss den Augenblick und lebte dafür.

Beflügelt von einer fast fühlbaren Erotik  füllte er Seite um Seite. Jede zärtliche Geste, jeden Kuss, jede Intimität durchlebte er noch einmal und mit Julias makellosem, nacktem Körper  vor seinem inneren Auge erlebte seine Fantasie einen wahren Höhenflug der Sinne.

Trotz klirrender Kälte trat er hinaus auf den Balkon seines Hotelzimmers. Es hatte geschneit und die Stadt zeigte sich in winterlicher Pracht. Der Geruch von Glühwein lag in der Luft.
Julia hatte Dienst und war anschließend mit Kolleginnen zu einer kleinen Weihnachtsfeier verabredet. „Es wird heute spät. Ich fahre heute Abend in meine Wohnung“, sagte sie  morgens zum Abschied, schmiegte ihren warmen nackten Körper an seinen und küsste ihn leidenschaftlich, bevor sie unter der Dusche verschwand.

Er konnte dem Glühweinduft nicht länger widerstehen. Glühwein, eine Rostbratwurst und eine Runde über den Weihnachtsmarkt ganz in der Nähe des Hotels zu schlendern,  wäre eine willkommene kreative Denkpause.

Gerade, als er den Heimweg antreten wollte –angesichts der vielen Pärchen fühlte er sich alleine etwas deplatziert- sah er sie. Er formte die Lippen und wollte gerade ‘Julia’ rufen, als er bemerkte, dass sie nicht alleine war. An einem Stand mit Bratäpfeln, gebrannten Mandeln und kandierten Früchten hatte sie ein großes Lebkuchenherz erstanden, auf dem in hellen Zuckerguss-Buchstaben ‘Ich liebe Dich’ stand. Lächelnd hängte sie ihrer Begleitung das Herz um den Hals. Julias Augen strahlten so voller Wärme und Zärtlichkeit, dass es ihm die Kehle zuschnürte.
Sie zog ihre Begleitung ins Halbdunkel des Standes. Beide fielen sich in die Arme und küssten sich voller Leidenschaft und Hingabe. Er musste sich geirrt haben.

Plötzlich erschien das Foto auf Julias Nachttisch, das neben seinem Bild stand, vor seinem inneren Auge. Er hatte dem  bisher keine weitere Bedeutung beigemessen  – Julias beste Freundin. Jede Frau hatte eine beste Freundin.  Schlagartig wurde ihm klar, weshalb Julia sie bisher nicht miteinander bekannt gemacht hatte.

Der Boden unter ihm schien zu schwanken. Tränen liefen ihm über sein Gesicht. Er drehte sich um, zog sich die schwarze Pudelmütze noch tiefer in die Stirn und lief zum Hotel zurück.

Er starrte  auf seinen Laptop und las in seinem Liebesroman. Bisher hatte er keine Zweifel an einem Happy End gehabt.

Und nun?

©G. Bessen 2009