Aus den Augen verloren/Wo die Sehnsucht wohnt/Den Blick nach innen gerichtet


Aus den Augen verloren
Konditioniert im Weg-schauen.
Der Blick gerichtet
in die Ferne –
sehnend,
suchend
(m)Ich
die Sehn-such-t
meines Lebens.

© Barbara Hauser

 

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Weißt du,
wo die Sehnsucht wohnt?

Verborgen schläft sie
an geheimer Stelle

Ihr Schlaf ist leicht
und ihre Lider zucken

Sie rührt sich, streckt
und dehnt ihre Glieder

Ihr Nest ist weich
und wohlig die Stelle

Sie badet im See
bei der uralten Quelle

Sie räkelt sich gut versteckt,
von bröckeligen Blätterschichten
vollkommen bedeckt

und hört doch leisestes Rufen
Erkennt von Ferne
zaghaftes Suchen

Unscheinbar und kaum sichtbar,
in der Tiefe verborgen,
eine uralte Pforte.

Leises Knarren, sie
öffnet sich kaum, doch
suchend tritt Sehnen
in deinen Lebensraum

Genußvoll schließt sich
die Pforte und lächelt leicht

Mit Sehnsucht werden
Wunder erreicht

 

©Bruni Kantz

 

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Den Blick nach innen gerichtet,
auf der Suche nach mir,
ein Schneckenhaus errichtet,
kein Laut dringt zu mir.

Ich selbst bin mir wichtig,
fern von Zeit und Raum.
Wahr-nehm-ung meiner selbst
ein Inne-schauen.

 

© Gaby Bessen

 

Der Feriengast

Zufrieden blickte Anna sich in dem gemütlich eingerichteten Zimmer um. Das Bett war frisch bezogen, die zartgelben  luftigen Gardinen wehten im lauen Frühlingswind. Ein Strauß Tulpen und Narzissen aus dem Garten  verströmte seinen lieblichen Duft im gesamten Zimmer. Alles war für die Ankunft des neuen Gastes vorbereitet.

Nachdem Günter sie nach zehn Jahren wegen einer Jüngeren  verlassen hatte, brauchte sie lange, um aus diesem Loch wieder herauszukommen. Aber da es kein Mann wert ist, ewig um ihn zu trauern, nahm sie ihr Leben von Tag zu Tag energischer selbst in die Hand. Er hatte  sich eine Lebensversicherung auszahlen lassen, davon eine Segeljacht gekauft und wollte mit seiner neuen Flamme im zweiten Frühling die Welt umsegeln.

Anna hatte mit ihm in ihrem Elternhaus gelebt, im ‚Land der Tausend Seen’. Nachdem sie das obere Stockwerk zu einer Ferienwohnung hatte ausbauen lassen, denn die untere Etage reichte für sie völlig aus, lud sie auf einer eigenen Homepage Gäste zu einem Urlaub in der Mecklenburgischen Seenplatte ein. Sie war wählerisch und führte vorab einen intensiven E-Mail-Kontakt mit ihren Anwärtern. Sie nahm nicht jeden. Als allein stehende Frau, mit Mitte vierzig, wollte sie schon genau wissen, mit wem sie ihr Heim für eine gewisse Zeit teilte. Finanziell hatte sie es eigentlich nicht nötig. Sie hatte nach dem Tod ihrer pflegebedürftigen Eltern viel geerbt und von ihrem ersten verstorbenen Mann Erwin bekam sie eine gute Witwenrente. Ihren Beruf als Krankenschwester hatte sie kurz vor der Geburt ihres ersten Kindes aufgegeben.
Günter war ein langjähriger Lebensabschnittsgefährte, dem sie genau die zwei Koffer, mit denen er einzog, zum Auszug vor die Tür gestellt hatte.

Ihre Feriengäste waren ausschließlich Männer, die sie ganz bewusst auswählte. Es ging ihr nicht um einen neuen Partner, sondern um ein bisschen Gesellschaft. Sie genoss es, für ihren Gast zu kochen und zu backen, mit ihm kulturelle Veranstaltungen zu besuchen oder abends bei einem Glas Rotwein ein interessantes Gespräch zu führen. Bisher hatte sie Glück mit ihren Gästen, es waren ausnahmslos nette Menschen, die ihren geistigen Horizont bereicherten und gerne wiederkamen.
Oliver  und Maja, ihre Kinder aus der Ehe mit Erwin, hatten ihre Mutter für verrückt erklärt und regelmäßig nach ihr geschaut, wenn sie einen Gast hatte. Aber Lotte, die wachsame Schäferhündin, ließ ihr Frauchen nur selten aus den Augen.

Anna saß auf ihrer Terrasse und las die Zeitung, als ein silberfarbener BMW vor ihrem Grundstück hielt. Das war er, der Chirurg aus Lübeck, der sich für drei Wochen bei ihr einquartieren wollte. Er bezeichnete sich selbst als Einzelgänger und hatte die Ferienwohnung mit Selbstverpflegung gebucht

Mit einem Koffer und einer Reisetasche, in dunkelblauen Jeans und weißem Polohemd, stand er kurz darauf vor dem Gartentor. Seine leicht angegrauten, welligen Haare bildeten einen angenehmen  Kontrast zu seinem sonnengebräunten Gesicht und seinen warmen, braunen Augen. Lotte betrachtete den Ankömmling erst skeptisch, dann  mit  wedelnder Rute und Anna atmete auf. Nach Lottes indirektem ‚Okay, den kannst du reinlassen’, öffnete Anna dem neuen Gast einladend das Gartentor.
„Hallo, ich bin Anna Scholz. Und Sie sind sicher Doktor Mertens“, begrüßte sie ihn mit einem charmanten Lächeln und reichte ihm die Hand.
„Peter Mertens, den Doktor lassen wir weg“, antwortete der Gast freundlich und drückte Annas Hand mit einem festen, warmen Händedruck.

Nachdem Peter Mertens seine Wohnung bezogen und von Anna zu einem Kaffee und einem Stück Käsekuchen überredet worden war, bekam sie ihn die nächsten drei Tage kaum zu Gesicht. Morgens ging er joggen, danach frühstückte und duschte er und meist verschwand er dann für den Rest des Tages. Abends, wenn sie bereits zu Bett gegangen war, hörte sie ihn, wie er unruhig in seinem Zimmer hin und her lief.                                                  Sie hatte ein feines Gespür und war überzeugt, dass ihm etwas auf der Seele brannte, etwas, das ihn in dieses abgelegene Ferienhaus getrieben hatte. Er bekam keine Anrufe und keine Post, niemand besuchte ihn.

Sie wusste kaum etwas von ihm und war ein wenig enttäuscht, dass dieser gut aussehende Mann so reserviert und fast ein wenig scheu war.
Als Peter Mertens an diesem Abend nach Hause kam, hatte sie gerade das Abendessen fertig.
„Wenn Sie Lust haben, dürfen Sie mir beim Essen gern Gesellschaft leisten. Es reicht auch für zwei“, begrüßte sie ihn, als er in den Hausflur trat.
Peter Mertens schaute sie überrascht an.
„Es riecht fantastisch“. Der Duft nach gebratener Forelle und Speckkartoffelsalat erfüllte den gesamten Flur. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen.
„Sehr gerne, ich bin in fünf Minuten da“, antwortete er und nahm gleich zwei Treppenstufen auf einmal.

Annas Kochkünste überzeugten ihn so sehr, dass er seine Selbstverpflegung aufgab und sich von ihr zum Frühstück und zum Abendessen gern verwöhnen ließ.
„Haben Sie sich schon ein wenig erholt? In Ihrem Beruf haben Sie das sicher dringend nötig“, bemerkte sie eines Abends, als sie nach dem Essen gemeinsam einen Rotwein auf der Terrasse tranken. Sein Gesicht verfinsterte sich im Schein der Lampe, die die Terrasse in ein gemütliches Licht tauchte.
„Nein, leider nicht. Ich komme nicht zur Ruhe, so sehr ich mich auch darum bemühe.“
„Wenn Sie jemandem zum Reden brauchen, ich bin eine gute Zuhörerin.“

Peter Mertens goss beideGläser noch einmal voll und dann brach es aus ihm heraus. Anna hörte ihm zu, ohne ihn zu unterbrechen. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als sie die Last der Schuld erfasste, die er seit Wochen mit sich herumtrug.

Er hatte auf dem Weg zur Klinik einen kleinen Jungen angefahren, der plötzlich zwischen zwei Autos herausschoss,  ohne dass er ihn vorher gesehen hatte. Er bremste sofort, aber der Junge lag halb unter seinem Auto. Peter Mertens fuhr in dem bald eintreffenden Krankenwagen mit, ordnete per Handy alle notwendigen Vorbereitungen für eine Notoperation an und war nicht davon abzubringen, den Jungen selbst zu operieren. Er war ein hervorragender Chirurg, der selbst in größten Krisensituationen die Ruhe bewahren konnte.
Der Junge hatte schwere innere Verletzungen. Die Operation dauerte mehrere Stunden und schien zunächst erfolgreich. Nach der Operation stellte sich Doktor Mertens der wartenden Polizei zur Vernehmung.
Als  er sich in sein Dienstzimmer zurückzog um ein wenig zu schlafen, piepte ihn die Intensivstation an. Wenig später erlag der Junge einer Hirnblutung.

Obwohl er wusste, dass er den Unfall nicht hätte verhindern können und auch alles Menschenmögliche bei der Operation getan hatte, fühlte er sich am Tod des Jungen schuldig. Er nahm unbefristeten Urlaub, solange alle notwendigen Untersuchungen  und Verfahren liefen.
Über eines war er sich in den Tagen seines Urlaubes jedoch klar geworden, er wollte nicht mehr als Chirurg arbeiten. Er konnte es nicht mehr. Und er wollte alles hinter sich lassen, seine Wohnung und seine Klinik in Lübeck und irgendwo ganz von vorne anfangen.

„Eigentlich habe ich immer gedacht, ich könnte ohne den Flair einer Großstadt nicht leben, aber seit ich hier bin, genieße ich die Natur wie nie zuvor. Vielleicht sollte ich mein neues Betätigungsfeld im ländlichen Raum suchen.“

Nachdem er seine quälende Last losgeworden war, wirkte er ruhiger und gefasster.
„Danke, dass Sie mir zugehört haben“. Er warf Anna einen langen, fast zärtlichen Blick zu und da es mittlerweile spät geworden war, verabschiedete sich bald darauf und ging in sein Zimmer.

Anna und Peter kamen sich im freundschaftlichen Sinn in den nächsten Tagen näher. Peter  ließ sich von Annas kulinarischen Künsten verwöhnen und gemeinsam sorgten sie dafür, dass diese Köstlickeiten keine dauerhaften Rückstande hinterließen.
Anna fand Freude am morgendlichen Joggen, dass von Lottes lautem Freudengebell begleitet wurde. Peter lernte durch Anna die Schönheiten der Landschaft rund um die Mecklenburgische Seenplatte kennen. Und abends saßen sie gemeinsam bei einer Flasche Rotwein auf der Terrasse, lasen oder unterhielten sich.

Manchmal erwischte sich Anna bei dem Gedanken, dass es ewig so weitergehen könnte. Sie mochte Peter sehr, aber eine gewisse scheue Distanz blieb zwischen ihnen bestehen, da konnte auch das vertrauliche DU nichts gegen ausrichten.

Eines Morgens hatte Anna wie rein zufällig eine Zeitung neben Peters Frühstücksteller gelegt. In einer Anzeige kündigte der Internist des Ortes an, dass er einen Nachfolger für seine Praxis suche, um in den wohlverdienten Ruhestand zu gehen. Sie beobachtete Peter verstohlen und war sicher, dass er die Anzeige gelesen hatte.
Er verabschiedete sich nach dem Frühstück in einem hellen Leinenanzug und einem dezent gestreiften Hemd, was gar nicht nach seiner bisherigen Freizeitkleidung passte. Sie hoffte, dass er angebissen habe.

Als er am späten Nachmittag zurückkam, musste Anna sich sehr auf die Zunge beißen, um ihn nicht zu fragen, ob er in der Praxis war. Peter sagte nichts, aber er war für den Rest des Tages sehr nachdenklich und hüllte sich in konsequentes Schweigen.

Peters Urlaub war in drei Tagen vorbei.
„Hast du eigentlich nach mir einen neuen Gast?“
„Ich habe mich noch nicht entschieden, aber zwei Anwärter warten auf meine Antwort.“
Damit hatte Peter nicht gerechnet. Enttäuscht biss er in sein Marmeladenbrötchen.
„Kannst du mir die Wohnung freihalten? Ich werde sie wahrscheinlich noch eine ganze Weile brauchen“, setzte er zögern hinzu. “Natürlich nur, wenn du mich noch eine Weile ertragen möchtest.“
„Das kommt ganz darauf an, was du vorhast“, schmunzelte Anna.
„Ich werde morgen nach Lübeck zu einem wichtigen Termin in die Klinik fahren. Je nachdem, wie das Gespräch ausgeht, werde ich mich entscheiden, ob ich dort kündige und Doktor Heinrichs Praxis weiterführe oder nicht. Morgen Abend komme ich wieder und dann wissen wir beide mehr. Und wenn ich hier bleibe, brauche ich ja erst mal ein Dach über dem Kopf. Auf einer Behandlungsliege schläft es sich schlecht.“

„Du kannst die Wohnung so lange nutzen, wie du willst.“
Anna schaute ihm fest in die Augen. Peter hielt ihrem intensiven Blick stand. Ihre weibliche Intuition hatte ihr bereits verraten, wie er sich entscheiden würde.

©G.B. 2009

Z – wie Zerreissprobe

Ihre schallende Ohrfeige traf ihn völlig unvorbereitet. Reflexartig riss er die Hand hoch und legte sie schützend auf seine brennende Wange. Sie starrten sich an, ungläubig, entsetzt  und fassungslos.

Sein Blick war vernichtend und ging ihr durch Mark und Bein. Sie wollte sich bei ihm entschuldigen, aber sie brachte kein Wort heraus.

 „Warum tust du das?“, fragte er kurz.

„Ich… weiß es nicht. Ich bin so wütend.“

Statt einer Antwort drehte er sich abrupt um. Sie hörte, wie er ins Badezimmer ging, den Wasserhahn kurz aufdrehte und sich wusch. Kurz danach schlug die Eingangstür ins Schloss.

Er war gegangen, ohne ein Wort.

Ihre Hände zitterten. Sie goss sich einen Kognakschwenker voll Weinbrand ein, setzte sich auf die Couch und starrte vor sich hin. Was war bloß in sie gefahren?

Das Zittern in ihren Händen ließ langsam nach und auch ihr Gehirn fing an, wieder zu arbeiten. Sie hatte eine Stinkwut auf ihn und auf sich.

Warum hatte sie nicht versucht, mit ihm zu reden?

Verloren schaute sie sich um. Sie konnte nicht einschätzen, wie es weitergehen würde. Wohin er gegangen war, konnte sie nur mutmaßen. Ihr fielen nur zwei Möglichkeiten ein, eine Kneipe, in der er sich nun volllaufen lassen würde oder er würde wieder zu ihr gehen.

Da war er wieder, dieser beißende Schmerz der Eifersucht, der seit Tagen an ihr nagte und das Fass zum Überlaufen gebracht hatte.

Sie hatten sich vor zwei Jahren kennengelernt. Es war Liebe auf den ersten Blick. Eine leidenschaftliche Liebe, die große Opfer auf beiden Seiten forderte. Als beide die Lügereien und Heimlichkeiten nicht mehr ertrugen, kam die Wahrheit ans Licht.

Bea zog aus dem gemeinsamen Haus, das sie mit ihrem Mann Marc und der gemeinsamen Tochter Vivien bewohnte, aus und zahlte dafür einen großen Preis, sie musste auf ihr Kind, das bei seinem Vater blieb, verzichten. Marc hatte das Sorgerecht bekommen und sie musste mit den wenigen Wochenenden, an denen sie ihre Tochter bei sich haben durfte, zufrieden sein.

Pit traf es doppelt hart. Sein Sohn Daniel war erst drei Jahre alt und seine Frau Monika war im sechsten Monat schwanger. Für Monika brach eine Welt zusammen.

Ihre Liebe füreinander machte sie stark, mit diesen Verlusten wegen der Kinder zu leben. Sie suchten sich eine kleine gemütliche Wohnung und mit finanziellen Abstrichen, denn dazu fühlten sie sich moralisch ihren ehemaligen Partnern und Kindern verpflichtet,  führten sie ein  liebevolles harmonisches Leben. Sie lasen sich ihre Wünsche gegenseitig von den Augen ab, richteten sich in schweren Stunden gegenseitig auf und hatten manchmal Angst, dass das große Glück in ihren Händen von heute auf morgen zerrinnen könnte.

„Eines Tages werden wir dafür bezahlen, dass wir unsere Kinder im Stich gelassen haben“, sagte Bea oft und dachte dabei sehnsuchtsvoll an Vivien.

Alles war gut, bis vor vier Wochen.

Während Marc nichts mehr von Bea sehen und hören wollte und sich sehr schnell mit Beas bester Freundin getröstet hatte, gelang es Pit, ein entspanntes Verhältnis zu Monika aufzubauen. Die Kinder sollten nicht darunter leiden.

Marc spielte seinen Einfluss auf die sechsjährige Vivien  voll aus. Es kostete Bea viel Geduld und Liebe, das Bild der egoistischen Rabenmutter, das Vivien sich von ihrem Vater hatte einreden lassen, bei jedem Zusammensein wieder geradezurücken. Bea wusste, dass es nie eine Möglichkeit geben würde, mit Marc ein halbwegs entspanntes Verhältnis aufzubauen.

Wenn Pit zu Monika und den Kindern fuhr, versuchte Bea loszulassen und ihre übertriebene Eifersucht im Zaum zu halten. Sie redete ihm sogar zu, den Kontakt zu seinen Kindern zu intensivieren. Aber die Angst, er könne zu Monika zurückkehren, saß tief in ihr fest. Und Monika – sie würde ihn mit Kusshand zurücknehmen.

Vor vier Wochen hatte Pit abends angeblich ein Geschäftsessen. Das war in seinem Beruf nichts Außergewöhnliches. Bea verabredete sich mit ihrer Freundin Denisa für einen Kinobesuch. Sie hatten einen schönen unterhaltsamen Abend und wollten danach noch etwas Essen gehen.

Rechtzeitig, bevor sie das Restaurant betraten, entdeckte Bea ihren Pit – zusammen mit Monika. Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen.

„Komm, lass uns woanders hingehen.“ Fast gewaltsam zog sie Denisa von dem Lokal weg.

„Dafür gibt es bestimmt eine ganz logische Erklärung. Lass uns reingehen. Gehe freundlich auf ihn zu und frag ihn einfach.“

„Das kann ich nicht, lass uns bitte gehen.“ Bea war leichenblass geworden und der Abend war gelaufen.

Beas Angst, Pit wieder an Monika zu verlieren, hatte sich wie ein giftiger Stachel in ihr festgesetzt. Sie reagierte zunehmend launisch und aggressiv. Pit verstand die Welt nicht mehr, er konnte sich aus Beas Verhalten keinen  Reim mehr machen.

Jedes Mal, wenn Pit später als normal von der Arbeit kam – und das passierte in letzter Zeit sehr häufig –  ging Beas Fantasie mit ihr durch. Sie malte sich in den schillernden Farben aus, dass Pit die späten Abendstunden zärtlich mit Monika verbrachte. Dass er regelmäßig über eine enorme Arbeitsbelastung klagte und am frühen Abend schon todmüde war, wenn er pünktlich kam, nahm sie nicht wahr.

Sie kippte sich erneut einen Kognak ein. Je mehr Alkohol sie trank, desto mutiger wurde sie. Sie griff zum Telefon und wählte Monikas Nummer. Sie hatten beide ein sehr distanziertes Verhältnis zueinander und sahen sich nur mal kurz, wenn Pit seine Kinder nach Hause brachte.

Monika schien schon geschlafen zu haben.  Bea hörte ein langgezogenes „Hallo“ am anderen Ende der Leitung.

„Hier ist Bea. Kann ich bitte Pit sprechen?“

Monika schien mit einem Mal hellwach zu sein.

„Machst du Witze? Wieso sollte Pit denn hier sein?“

„Ist er nicht?“, fragte Bea unsicher zurück.

„Er hat mein Bett vor langer Zeit mit deinem getauscht, wie du wohl weißt“, konterte Monika.

Bea schwieg und fasste sich an den schmerzenden Kopf.

„Bea, ist alles in Ordnung?“, Monika schien sich keinen Reim auf die Situation machen zu können und klang besorgt.

„Pit ist weg und ich dachte, er sei bei dir.“

„Zugegeben, er war in letzter Zeit oft hier. Ich hätte das alles sonst nicht geschafft.“

„Was geschafft?“, fragte Bea zögernd.

„Wir ziehen in zwei Tagen in den Schwarzwald. Ich habe dort endlich eine feste Anstellung bekommen. Ohne Pits Hilfe hätte ich die ganzen Formalitäten, die Rennereien  und die Organisation des Umzuges mit den Kindern nicht geschafft.“

Bea schwieg. Ihre Gedanken überschlugen sich.

„Bea, bist du noch da? Hast du davon etwa nichts gewusst?“.

„Doch, klar, das hat er mir erzählt. Entschuldige bitte, dass ich dich geweckt habe. Ich hatte da wohl etwas falsch verstanden. Alles Gute für euch, bis bald.“

Bea legte hastig den Hörer auf, schnappte sich ihren Mantel und zog los, um Pit zu suchen und sich zu entschuldigen. Und sie wusste, wo sie ihn finden würde – bei seinem besten Freund Rolf.

© G.B. 2009

W – wie Wartezimmer

Wartezimmer

Ein Zimmer, in dem man wartet. Worauf?

Ein Zimmer, das von den Gedanken der Wartenden erfüllt ist.

Als ich die Gesichter der Menschen im Wartezimmer betrachtete, hätte ich  gerne in die Köpfe der Menschen hinein gesehen. Welche Gedanken beschäftigen sie?

Eine Frau mittleren Alters hält die Hände ruhig im Schoß gefaltet. Ihre Körperhaltung ist ruhig, sie bewegt sich kaum. Aber ihre Augen vollführen einen kleinen Marathon. Die schmalen Lippen bilden eine feine Linie in dem von mehreren Fältchen geprägten Gesicht. Die großen braunen Augen hinter der randlosen Brille wandern unruhig hin und her.

Als sie aufgerufen wird, springt sie auf und lächelt.

Hat sie darauf gewartet, die Nächste zu sein? Erwartet sie einen Befund, dem sie mit Spannung  entgegen blickt?

Das junge Mädchen zu ihrer Rechten mit den grünblond gefärbten Haaren und den mit blauen Kästchen bemalten, ursprünglich weißen Turnschuhen, betrachtet intensiv ihre Arme, mal rechts, mal links. Neurodermitis. Aber aus diesem Grund ist sie sicher nicht in einer gynäkologischen Praxis. Als sie ihre Arme wieder in ihren schwarzen Sweatshirtärmeln versteckt hat, widmet sie sich ihren bunt lackierten Fingernägeln.

Eine ältere Dame kommt, setzt sich hin und greift sofort nach der neuesten Regenbogenpresse. Sie ist so vertieft in ihre Lektüre, dass sie beim Kommen und Gehen anderer Patientinnen nicht einmal aufschaut.

Direkt am Fenster eine Frau mit müden Augen, die ununterbrochen aus dem Fenster blicken.

Die Sonne, die sogar in eine winzige Ecke des Wartezimmers scheint, kann ihre Augen nicht zum Leuchten bringen. Sie scheint mit ihren Gedanken weit weg zu sein, nicht bei den Passanten, die bei strahlend blauem Himmel am Fenster entlanggehen, nicht in dem gegenüberliegenden Garten, der langsam aus dem Winterschlaf zu erwachen scheint.

Starr und teilnahmslos blicken sie vor sich hin auf die Straße mit dem alten Kopfsteinpflaster.

Es ist still im Wartezimmer. Die einzigen Geräusche sind das Klingeln des Telefons, die freundliche Stimme der Arzthelferin, die Termine vergibt, Rezeptwünsche annimmt und sich auch telefonisch nach dem Befinden der Patientinnen erkundigt.

Türen werden leise geöffnet und geschlossen. Die Ärztin holt ihre Patientinnen selbst aus dem Wartezimmer ab und gibt ihnen zur Begrüßung die Hand.

Keine knarrende Durchsage wie in anderen Praxen ‚Frau Sowieso, bitte in Sprechzimmer x’.

Die wohltuende Stille wird durchbrochen durch eine hereinkommende junge Mutti mit einem Kleinkind, das erst wenige Monate alt ist.  Groß blicken die strahlend blauen Augen von einem zum anderen und erst, als das Kind auf dem Schoß der Mutter sitzt, verliert es seine Scheu und lächelt jeden reihum an, mit quiekender Babysprache und wild gestikulierenden Händchen.

Ein Mann betritt das Wartezimmer. Plötzlich richten sich alle Blicke auf ihn. In keiner anderen  fachärztlichen Praxis zieht ein Mann die Blicke der Frauen so auf sich. Nachdem er seiner Frau aus dem Mantel geholfen hat, verabschiedet er sich wieder. Die Frauendominanz scheint ihn verschreckt zu haben.

Es kehrt wieder Ruhe ein und die Gedanken ziehen erneut ihre Kreise.

C/ G.B. 2009

 

V – wie Vom Weg abgekommen

Er hatte es sich gerade unter einem bunten Laubhaufen gemütlich gemacht und die kleinen schwarzen Äuglein zufrieden geschlossen, als er von einem Geräusch, das immer lauter wurde, zusammenschreckte. Vorgewarnt, dass etwas Unbekanntes auf ihn zukommen würde, wappnete er sich und rollte sich zusammen.

Es raschelte um ihn herum, seine neue Behausung begann regelrecht davonzufliegen. Er schnupperte und blinzelte missmutig herum. Zwei Augenpaare, ein braunes und ein schwarzes, blickten ihn verwundert an.

„Geht eurer Wege und seid so gut und lasst mich schlafen.“

Die vier Augen ließen sich davon nicht beeindrucken und starrten diesen komischen Kauz neugierig an. Ehe er sich versah, wurde er von weichen Pfoten durch die Gegend gerollt.

„Hört auf, ich bin doch kein Ball!“

Die zwei Dackel, die sich wunderten, weshalb der gefundene Ball so stachelig war, ließen sich nicht beirren und rollten den Igel mit vereinten Kräften nachhause. Sie liebten Bälle und glaubten fest daran, eine weiche Stelle zu finden, um mit ihm spielen zu können.

Das aufgeregte Kläffen der Hunde dröhnte dem Igel in den Ohren und lockte das Hundeherrchen nach draußen. Dem Igel war schon ganz übel von der Herumkullerei und so sehr er sich auch bemühte, seine Stacheln drohend aufwärtszustellen, er konnte die Hunde damit nicht abschrecken.

„Autsch!“, schrie der Igel, als er unsanft landete. Jemand hatte ihn vorsichtig hoch gehoben und in ein weißes Behältnis gesetzt. Aber niemand schubste ihn weiter herum. Nur das aufgeregte Kläffen der Hunde war noch zu hören.

Der Igel stellte sich weiterhin tot und wartete ab.

Nach einer Weile wurde er neugierig und lugte mit seinem kleinen Köpfchen hervor. Um ihn herum war alles weiß und glatt. Er wollte davonlaufen und wieder unter seinen Laubhaufen, der so verführerisch roch und weich und trocken war.

Er versuchte alles, aber es schien kein Entkommen zu geben. Überall rutschte er ab und plumpste in das Behältnis  zurück.

„So ein Mist!“, schimpfte der Igel vor sich hin.  Jeder Mensch weiß, dass Igel um diese Jahreszeit ihren Winterschlaf beginnen. Und jetzt hielt man ihn hier gefangen, in einem kalten Blumentopf, ohne Nahrung und ohne Schutz. Er begann zu weinen, denn wenn er hier gefangen gehalten bliebe, würde er nicht überleben.

Plötzlich nahm ihn jemand vorsichtig in die Hand und setzte ihn auf eine dicke Schicht feuchter Blätter in einem großen dunklen Kasten.

Dankbar rollte sich der Igel wieder ein. Über sich hörte er das aufgeregte Schnaufen eines Hundes. Aber was war das? Jemand trug ihn mit seinem neuen Haus weg und die Verzweiflung überkam ihn erneut.

Als sein winziges Näschen den Geruch der Hände, die ihn umfassten, erkannte, seufzte er vor Glück. Diese Hände hatten ihn erst vor wenigen Tagen in ein lauschiges Winterquartier gebracht, von dem aus er leichten Zugang zu einem Hundenapf mit einem leckeren Fresschen hatte.

Und schlagartig wurde ihm klar, was passiert war.

In der letzten Nacht hatte er sich von seinen Verwandten verabschiedet und war auf dem Nachhauseweg im falschen Garten gelandet.

Aber nun war er wieder da, wo er hingehörte und einem langen erholsamen Schlaf schien nichts mehr im Wege zu stehen.

 (Die Geschichte  passierte live  in  unserem Garten)

c/ G.B. 2010