Fiete und das Mädchen

Klassenreise 194-cropFiete schreckte hoch und rieb sich verschlafen die Augen. Hatte er geträumt oder rief  jemand nach ihm? Er lauschte ins Dunkel der Nacht, aber außer dem pfeifenden Ostwind, der an den Fensterläden riss, hörte er nichts. Und doch – da war es wieder, ein zartes Stimmchen, das der Wind bis zu seiner Schlafkoje trug. Schwerfällig schlug er die Decke zurück, setzte sich, fingerte umständlich auf dem kleinen Tisch nach seiner Brille und stieß dabei fast seine Teetasse um. Noch hatte er Schwierigkeiten, sich zu orientieren.

Am späten Nachmittag hatte er sich nicht wohl gefühlt. Der Hals kratzte und ein reißender Kopfschmerz machte sich hinter seiner linken Schläfe breit. Tee mit Rum – das war die einzige Medizin, von der er etwas hielt. Alles andere war Geldschneiderei und Quacksalberei. Fiete war seit fast zwanzig Jahren Leuchtturmwärter auf einer  kleinen Insel in der Ostsee. Er und die Einsamkeit hatten einen Pakt geschlossen, bis dass der Tod sie scheiden würde.  In diesem Teil der Insel gab es nur den Leuchtturm, vor ihm die Unendlichkeit des Meeres und hinter ihm farbige Laubwälder, deren buntes Blätterdach der anhaltende Ostwind mehr und mehr zerrupfte. Fiete stand auf und trat ans Fenster. Es war bereits stockdunkel, obwohl es erst früher Abend war. Aufgepeitscht klatschten hohe Wellen unerbittlich an die Kliffküste, als wollten sie Stein für Stein aus dem Gefüge reißen. Der Blick aus dem Fenster auf der anderen Seite führte ins Unergründliche der Wälder, deren Wipfel sich der Kraft des Windes beugten.

Er wollte sich schon wieder hinsetzen. Kein Mensch würde sich an so einem Abend zum Leuchtturm verirren. Fiete mochte die Menschen nicht mehr. Er war in einem Alter, in dem andere Menschen schon seit Jahren ihren Ruhestand genossen, um die Welt reisten und sich ein komfortables Leben leisteten. Das alles wollte er nicht. Er wollte allein mit der Natur sein und auf seinem Leuchtturm leben, bis der liebe Gott ihn zu sich holte. Fiete hielt inne. Irgendetwas klapperte unten. Er seufzte tief, zog seine alten Filzpantoffeln an und schlurfte die Treppe nach unten.

„Ich komme ja schon“, rief er von Zeit zu Zeit mit krächzender Stimme.

Nach Atem ringend erreichte er die schwere Holztür des Leuchtturms, schob den rostigen Riegel zur Seite und öffnete die Tür, die sich mit einem knarrenden Geräusch gegen die abendliche Ruhe zu sträuben schien.

Vor der Tür stand ein Mädchen und blickte Fiete an. „Da bist du ja endlich“, sagte das Mädchen in vorwurfsvollem Tonfall. Fiete traute seinen Augen kaum. Das Mädchen war höchstens acht Jahre alt. Zwischen einer bunten Pudelmütze und einem dicken Wollschal fand er ein Gesicht mit großen dunkelbraunen Augen, einer vorwitzigen Stupsnase und einem weich geschwungenen Mund.

„Was machst du denn hier?“, fragte Fiete das Mädchen.

„Ich wollte zu dir“, kam die prompte Antwort.

„Ja, aber Kind, es ist bitterkalt. Komm rein, du holst dir ja den Tod bei diesem Wind.“

Fiete schloss die knarrende Tür und überlegte fieberhaft. So etwas hatte er in all den Jahren noch nicht erlebt. „Wo sind deine Eltern?“ Das Mädchen konnte ja nicht vom Himmel gefallen sein.

„Meine Eltern sind zuhause. Ich …“, sie zögerte, „ich bin von zuhause weggelaufen.“

Auch das noch! Fiete fuhr sich mit der rechten Hand durch seinen grauen Vollbart und seufzte.

„Komm Kind, lass uns nach oben gehen. Dort ist es warm und dann erzählst du mir alles, ja?“

Das Mädchen nahm leichtfüßig eine Stufe der alten Wendeltreppe nach der anderen. Fiete hingegen merkte, wie sehr ihm das Treppensteigen  von Tag zu Tag schwerer fiel. Er musste ein paar Mal stehen bleiben und rang nach Luft.

Sie stand am Fenster in Fietes Zimmer und starrte angestrengt in die Dunkelheit hinaus, als suche sie nach etwas.

„Sagst du mir, wie du heißt?“, fragte Fiete. Schwer keuchend ließ er sich auf seinem alten Sofa nieder.

„ Ich heiße Sofia. Und du?“

„Ich heiße Fiete. Zieh mal deine Jacke aus und ich gieße uns einen heißen Tee ein, ja?“

Schweigend zog sich Sofia die Jacke aus, legte ihren Schal sorgfältig daneben und nahm ihre Mütze ab, unter der dunkelbraune Locken zum Vorschein kamen.

Fiete goss sich währenddessen einen kräftigen Schuss Rum in seinen Tee und schob Sofia eine frische Tasse mit dampfendem Früchtetee hin. Sie griff mit beiden Händen nach der Tasse und schlürfte hastig ihren Tee. Sie musste völlig durchgefroren und durstig sein.

 „Und nun erzähl mir mal, warum du von zuhause weggelaufen  und ausgerechnet zu mir gekommen bist.“ Er zündete sich seine Pfeife an und blickte erwartungsvoll zu Sofia.

„Also“, begann sie umständlich, „ich bin weggelaufen, weil meine Eltern mich belogen haben. Mein Hund Fine war sehr krank und meine Eltern sind mit ihm zum Tierarzt gefahren. Sie haben mir aber versprochen, dass sie Fine wieder mitbringen. Und als sie wiederkamen, war Fine nicht dabei. Mein Papa erzählte mir, Fine sei so krank gewesen, dass der Tierarzt ihm eine Spritze geben musste und …“. Ihre Stimme brach und ein paar Tränen kullerten ihr die Wangen herunter. „Fine ist nun tot und meine Mutter sagte, sie sei jetzt im Hundehimmel. Und ich – ich konnte mich nicht mal von ihr verabschieden.“

Sofia fing an zu schluchzen und verbarg das kleine Gesicht in ihren Händen.

„Wäre es dir denn lieber, wenn dein kranker Hund noch lebte, sich aber weiterhin quälen müsste?“, fragte Fiete mit belegter Stimme. Das Leid der Kleinen ging ihm richtig an die Nieren.

„Vielleicht hätte ich ihn gesund pflegen können.“

„Und wenn nicht?“

„Dann hätte ich mich wenigstens von ihm verabschieden können und wir hätten ihn im Garten begraben. Nun ist er einfach weg und ich weiß nicht, wo er ist. Und deshalb bin ich zu dir gekommen.“

„Wieso zu mir? Ich kenne doch deinen Hund nicht.“

„Aber du lebst hier oben und ich dachte, du hast vielleicht ein Fernglas und wir könnten bis zum Hundehimmel sehen. Dann wüsste ich, wo Fine ist und könnte sehen, ob es ihr gut geht.“

Mit erwartungsvollem Blick aus dem verweinten Gesicht schaute Sofia Fiete an.

Das war die Logik eines Kindes.

„Und deshalb bist du zum Leuchtturm gekommen, weil du weißt, dass man von hier oben weiter sehen kann?“

„Ja“, antwortete Sofia. „Ich habe den Leuchtturm immer im Auge behalten und bin seinem Licht gefolgt. So habe ich dich gefunden.“

„Ich habe ein Fernglas, und wir werden mal sehen, ob wir den Hundehimmel finden. Aber vorher, Sofia, müssen wir deine Eltern anrufen, denn sie machen sich sicher Sorgen um dich. Wann bist du denn zuhause losgegangen?“

„Als ich aus der Schule kam, habe ich mir ein paar Butterbrote geschmiert, habe sie eingepackt und bin los. Das war so gegen Mittag.“ Verlegen und mit sichtlichem Unbehagen schaute sie Fiete von der Seite an. „Meine Eltern sind bestimmt sauer auf mich. Aber hätten sie mich nicht belogen und Fine wieder mitgebracht, wär’ ich auch nicht weggelaufen“, setzte sie ein wenig trotzig hinzu.

Fiete versprach Sofia, sie zu unterstützen, ihren Eltern verständlich zu machen, warum sie weggelaufen war und nach einigem Zögern rückte Sofia ihre Telefonnummer raus.

Das Gespräch war kurz, rein informativ. Sofias Eltern waren sehr erleichtert und wollten gleich losfahren, um das ausgebüchste Töchterchen abzuholen.

Fiete  setzte frisches Teewasser auf, kramte sein altes Fernglas heraus und suchte mit Sofia den Himmel ab. Wolkenfelder huschten über den Novemberhimmel. Doch hin und wieder zeigte sich ein schwarzes Fleckchen Himmel mit funkelnden Sternen.

Der erfahrene Leuchtturmwärter erklärte Sofia, dass der Hundehimmel im Sternbild des Großen Hundes liege, etwa neun Lichtjahre von uns entfernt. Im Sternbild Großer Hund befinde sich Sirius, der hellste Stern am ganzen Himmelsgewölbe und lasse sich in den Nächten von Dezember bis März leicht am Winterhimmel finden. Sofia war enttäuscht, dass der Große Hund jetzt am Himmel noch nicht zu finden war, trotz des Vollmondes, der hin und wieder zwischen den vorbeiziehenden Wolken sein volles Gesicht strahlen ließ.

 „Nun weiß ich immer noch nicht, wie es Fine geht, ich kann den Hundehimmel nicht sehen.“

„Weißt du, Sofia, selbst wenn du den Hundehimmel siehst, kannst du nur fühlen, dass die verstorbenen Hunde da sind und es ihnen gut geht.“

„Wie kommt denn ein Hund in den Hundehimmel“?

Fiete legte seine erloschene Pfeife beiseite und zeigte mit dem Finger in den Himmel.

„Zwischen Himmel und Erde gibt es die Regenbogenbrücke, die wir Menschen nicht sehen können. Über diese Brücke gelangt jeder Hund in den Hundehimmel. Dort treffen sie sich, werden wieder lebendig und gesund und können auf einer großen Wiese miteinander herumtollen. Sie haben genug zu fressen und zu trinken, müssen sich um nichts Sorgen machen und es geht ihnen gut. Und wenn der Große Hund am Himmel ist, dann zwinkern die Hunde ihrem Frauchen oder Herrchen zu. Und das spürst du.“

Sofia blickte Fiete mit ihren großen Augen verwundert an.

Unten am Fuß des Leuchtturmes hielt ein Auto.

„Und nun gehst du nach unten und lässt deine Eltern herein, ja? Mir ist das Treppensteigen zu beschwerlich.“

Fiete brühte währenddessen frischen Tee auf und legte sich die Worte zurecht, die er Sofias Eltern sagen würde. Wenig später kehrte Sofia mit ihren Eltern zurück, die Fiete ein wenig misstrauisch betrachteten. Hatten sie doch einige seltsame Dinge über den komischen Kauz oben auf dem Leuchtturm gehört, der nach dem plötzlichen Tod seiner Frau vor zwanzig Jahren der Welt und den Menschen den Rücken gekehrt hatte. Nur der Postbote und der Lebensmittellieferant hatten Zugang zu ihm.

Sofias Eltern waren glücklich, ihre Tochter wohlbehalten wieder zu haben. Die Sorge um sie stand ihnen ins Gesicht geschrieben.

Fiete versprach Sofia, sie anzurufen, sobald der Große Hund am Sternenhimmel zu sehen war und nahm ihren Eltern das Versprechen ab, gemeinsam mit ihrer Tochter einen stillen Blick in den Hundehimmel zu werfen.

Nach einem letzten Tee mit Rum und einer frisch gestopften Pfeife legte sich Fiete in seine Schlafkoje. Ihm war unendlich warm ums Herz, das erste Mal seit zwanzig Jahren.

©G. Bessen, 2010

18 Kommentare

  1. Liebe Anna-Lena!
    So eine wunderschöne Geschichte hat niemals ein Verfallsdatum… ; eben weil täglich Hunde auf dieser Regenbogenbrücke zum Hundehimmel auf dem Weg sind !!
    Mit dieser Geschichte- wenn DU sie selbst vorliest- würdest Du auf den Kinderstationen einer Kinderklinik Deinen FAN-Kreis immens vergrößern !!
    Herzliche Grüße an Dich
    Uli

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