Schreibeinladung für die Textwochen 46.47.22

Vor den adventlichen Etüden lädt Christiane noch einmal ein!

Die letzte Wortspende für die Textwochen 46/47 des Jahres 2022 stammt von Ulrike mit ihrem Blog Blaupause7. Sie lautet:

Rolle
halbherzig
belohnen

 

Gedankenverloren starrte Lena aus dem Fenster, unschlüssig, ob sie die Rolle Backpapier nutzen oder weglegen sollte. Sie war hin und hergerissen und eigentlich hasste sie Halbherzigkeiten.

Aber seit Nora in Australien war, fühlte sie sich wie amputiert. Sie gönnte ihr das Studiensemester und hatte sie tatkräftig unterstützt, das Geld dafür anzusparen. Sie selbst hatte sie oft dafür belohnt, wenn sie neben ihrem Studium und ihrem Job in der kleinen Boutique für ihre gehbehinderte und demente Großmutter Besorgungen machte oder sie in bürokratischen Angelegenheiten unterstützte.

Wäre es doch Sommer, Lena würde es leichter fallen, die Zeit alleine besser zu überstehen. Doch jetzt, so kurz vor dem Advent, tauchten all die lieb gewonnenen Rituale und Vorbereitungen für das Fest vor ihrem geistigen Auge auf.

Wie gern hatten sie beide stundenlang Plätzchen gebacken und Sterne für den Weihnachtsbaum gebastelt. Mit viel Liebe und Geschmack hatten sie die Weihnachtsgeschenke verpackt und den Baum geschmückt, voller Erwartung auf den Heiligen Abend, wenn die Familie zusammenkam.

Nun war alles anders. Heiko war aus der ehelichen Wohnung ausgezogen und versuchte einen zweiten Frühling mit einer viel jüngeren Frau und deren Kindern. Lenas Mutter war nicht mehr mobil, verfiel zunehmend körperlich und auch ihr Geist war mittlerweile von einem großen Haus in ein kleines Zimmer gezogen.Die Familie war nicht mehr zusammen und Lena fröstelte bei dem Gedanken, Weihnachten allein zu verbringen.

Plötzlich hörte sie vor ihrem Küchenfenster Singen und Lachen. Eine kleine Gruppe aus dem Seniorenwohnheim in der Nähe war mit zwei Betreuerinnen unterwegs, Gehstöcke, Rollatoren und ein Rollstuhl zogen mit. Trotz der lausigen Kälte ging es den Damen und Herren offenbar gut, ihre Augen strahlten und sie genossen die Gemeinschaft.

Lenas Halbherzigkeit verwandelte sich in eine entschiedene Entschlossenheit und schon standen alle Backzutaten auf dem Tisch und warteten darauf, verarbeitet zu werden. Sie hatte einen Plan!

300 Wörter

 

 

 

abc-Etüde 49.50.18(3)

Schreibeinladung für die Textwoche 49.50.18 | Wortspende von Elke H. Speidel

Die neuen Wörter für die Textwochen 49 und 50 des Schreibjahres 2018 stiftete Elke H. Speidel von Transworte auf Litera-Tour. Sie lauten:

Winterbaum
nasskalt
nachtrauern

Carla (3)

Die Strapazen der Chemotherapie hinterließen bei Carla kaum Spuren, außer, dass ihr die Haare sehr schnell ausgegangen waren. Aber mit einer Perücke und bunten Kopftüchern ließ sich die Zeit gut überbrücken. Sie fühlte sich manchmal sehr müde nach der Behandlung, aber hätte sie selbst nicht gewusst, dass sie todkrank war, hätte man ihr das nicht geglaubt.

Als der Tag der Voruntersuchung zur Operation anbrach, standen die Zeichen in jeglicher Hinsicht auf Sturm. Die Frühlingssonne hatte längst die jungen Triebe und Knospen aus der Erde gelockt und die zartgrünen Blätter an den Bäumen wollten sich schon etwas vorwitzig öffnen, da fegte ein nasskalter Schneesturm durch die Stadt und riss mit sich, was sich ihm in den Weg stellte.

Carla stand am Fenster ihres Wohnzimmers und betrachtete stirnrunzelnd ihren Ginkgobaum, der sich vom Winterbaum in ein Frühlingsbäumchen verwandelt hatte und sich dem Schneesturm vehement widersetzte.

„Gut so“, sagte Carla halblaut, „lass dich nicht umpusten, ich tue das auch nicht“. Würde der Sturm ihn entwurzeln und fortwehen, würde sie ihm nachtrauern, denn er war für sie ein Symbol der Standhaftigkeit, des Verwurzeltsein, ja, ein gewisser Halt in dieser schweren Zeit geworden.

Die Voruntersuchung gab Anlass zur Hoffnung und aus lauter Freude, dass der Zellherd sich verkleinert hatte, gingen Carla und Heiner nach der Besprechung mit der Ärztin feudal essen.

Carla hatte Glück gehabt. Sie wurde erfolgreich operiert und bestrahlt. Ihren 60. Geburtstag feierte sie nach der Reha ausgelassene mitten im Hochsommer in ihrem Garten nach, mit all den Menschen, die ihr in dieser schweren Zeit treu geblieben waren. Auch das war eine Erkenntnis in dieser Phase: Wahre Freundschaft behauptet sich in der Krise.

Und mit 60 muss man seine kostbare Lebenszeit nicht mehr zwingend mit Arbeit verbringen, wenn man den tollsten Mann an der Seite hat, selbst, wenn man von ihm geschieden ist.

 

ENDE

300 Wörter

© G. Bessen

 

abc-Etüde 49.50.18(2)

Schreibeinladung für die Textwoche 49.50.18 | Wortspende von Elke H. Speidel

Die neuen Wörter für die Textwochen 49 und 50 des Schreibjahres 2018 stiftete Elke H. Speidel von Transworte auf Litera-Tour. Sie lauten:

Winterbaum
nasskalt
nachtrauern

 

Carla (2)

Carlas zuständige Ärzte handelten überlegt, was bei der Diagnose des rasend schnellen Zellwachstums zu begrüßen war, und nach  mehreren Besprechungen im Brustzentrum bekam sie  eine Liste mit all ihren Terminen. Erst eine Chemotherapie, danach eine Brust erhaltende OP nach erfolgreicher Verkleinerung des Zellherdes, anschließend eine Bestrahlung und zum Schluss eine onkologische Rehamaßnahme – alles in allem über einen Zeitraum von etwa acht Monaten. Ohne Netz und doppelten Boden, nur im Vertrauen auf den erfolgreichen Ablauf einer Studie, deren Medikamente auf ihr spezielles Krankheitsbild zugeschnitten waren.

Hatte sie eine Wahl?

Carla wollte leben und hatte keine Zeit, ihrer Arbeit, ihren KollegInnen und Schülern nachzutrauern. Sie setzte sich mit der Schulleitung zusammen und regelte die Aufteilung ihrer Kurse und Klassen und die Möglichkeiten der Vertretung.

Ihr geschmückter Winterbaum schien ihr immer wieder zuzunicken, wenn sie ihn betrachtete, zweifelte, ihre Tränen hinunterschluckte und ihre Ängste beiseiteschob.

Die nasskalten Dezembertage hatten den Garten mittlerweile in eine winterliche Idylle verwandelt und überall leuchteten Lichter, die Carla daran erinnerten, dass ihr schwerer Weg, deutlich aber hell, vor ihr lag.

Carlas geschiedener Mann Heiner stand eines Abends kurz vor Weihnachten mit einem Koffer vor der Tür und ließ sich nicht abweisen, Carla über die Feiertage zu bekochen, zu verwöhnen und ihr in diesen schweren Zeiten zur Seite zu stehen. Als am Heiligabend Carlas Tochter Josefine mit ihrem Freund Leo und der kleinen Enkeltochter Lea vor der Tür stand, ließ Carla alle Bedenken und ‚wenns und abers’ fallen und freute sich auf ein paar ruhige Tage mit ihrer Familie, die trotz aller Differenzen und Uneinigkeiten jetzt wie Pech und Schwefel zusammenstand.

Auch, wenn ihr eher nach Alleinsein und Seelenpflege zumute war, genoss sie die Ablenkung und lernte sogar durch Leas zauberhafte kindliche Art, wieder herzhaft zu lachen.

Sie ging dem neuen Jahr mit einer gehörigen Portion Optimismus entgegen.

300 Wörter

© G. Bessen

 

Fortsetzung morgen …

 

 

abc-Etüde 49.50.18(1)

Schreibeinladung für die Textwoche 49.50.18 | Wortspende von Elke H. Speidel

Die neuen Wörter für die Textwochen 49 und 50 des Schreibjahres 2018 stiftete Elke H. Speidel von Transworte auf Litera-Tour. Sie lauten:

Winterbaum
nasskalt
nachtrauern

Carla (1)

Sie zog die braune Wolldecke enger um ihre schmalen Schultern und starrte mit vor Tränen blinden Augen aus dem Fenster, hinaus in den Garten. Ihr kleiner Ginkgobaum, ein Geschenk einer früheren Abiturklasse, hatte mittlerweile alle Blätter verloren und war dem nasskalten Dezembersturm hilflos ausgeliefert – hilflos, wie sie selbst. Mit einer bunten Lichterkette sähe er vielleicht ein wenig anheimelnder aus, wie ein vorweihnachtlicher Winterbaum, der seine kräftigen Zweige dem Himmel bittend entgegenrecken würde. Blätter starben und fielen ab und meist kamen im kommenden Jahr neue Triebe. Einem ewigen Naturgesetz, auf das der Mensch bauen konnte, musste er nicht nachtrauern.

Carla jedoch hatte allen Grund zu trauern. Von jetzt auf gleich war ihr bisheriges Leben aus den Fugen geraten und noch immer jagten ihre Gedanken in Wortfetzen durch ihr Gehirn, eckten hier an, stolperten dort und überschlugen sich.

‚Diffuses Wachstum – nicht eingrenzbar – aggressiv – sofortige Behandlung – Teilnahme an einer Studie – Chance ergreifen …’.

In drei Tagen war ihr sechzigster Geburtstag, und als sie heute vom Arzt nach Hause kam, hatte sie wie in Trance das Lokal angerufen und alles storniert und per whatsapp all ihre geladenen Gäste benachrichtigt, dass die geplante feuchtfröhliche Feier buchstäblich ins Wasser fallen würde.

Die Diagnose Brustkrebs war der Partykiller per se geworden und wohin ihr Lebensschiff nun steuern würde, müsste sich in den nächsten Tagen erst einmal zeigen.

Einem 60. Geburtstag nachtrauern wäre lächerlich angesichts der noch unbekannten Lebenserwartung, die ihre Lebensplanung ohnehin völlig auf den Kopf stellte.

Carla hatte bisher alles in ihrem Leben geplant und vieles davon mit eiserner Disziplin in die Tat umgesetzt. Nun waren ihr die Hände gebunden und sie war abhängig von den Möglichkeiten, die die heutige Medizin ihr anbot.

Nachdem sie eine Flasche Rotwein geleert hatte, fiel sie in einen unruhigen Schlaf und wachte am folgenden Morgen viel zu spät auf.

299 Wörter

© G. Bessen

 

Fortsetzung morgen …