Schreibeinladung für die Textwoche 05.22 | Extraetüden

In dieser Woche lädt Christiane zu einer Extraetüde ein. Mit Begriffen des abgelaufenen Monats, sechs an der Zahl, werden davon fünf ausgesucht und in einem Text von maximal 500 Wörtern untergebracht.

Die Wörter im Monat Januar spendeten Ludwig Zeidler und Tanja mit ihrem Blog Stachelbeermond. Sie lauteten:

Hoffnungsschimmer, unverzeihlich, nähen,
Wackelpudding, unverdrossen, knistern

Julian hätte sich nicht träumen lassen, dass er noch mal herkommen würde. Mit einem Gefühl, Wackelpudding in den Beinen zu haben, zog es ihn nach vorne in die erste Reihe. Bis die anderen kamen, blieb ihm noch eine Stunde Zeit.

Ein heller Sonnenstrahl fiel durch die bunten Fenster hinter dem Altar, wie ein zaghafter Hoffnungsschimmer, der Licht in die jahrzehntelange Dunkelheit seiner verletzten Seele bringen wollte.

Hoffnung – das Wort hatte er aus seinem Sprachschatz gestrichen. Eine tiefe Enttäuschung hatte sich in all den Jahren in ihm breitgemacht. Niemand hatte ihn je angesprochen, sich bei ihm entschuldigt oder ihn um Verzeihung gebeten. Was ihm und seinem besten Freund hier angetan worden war, blieb unverzeihlich.

Sein Blick wanderte durch den Altarraum und blieb an den Altarstufen hängen und plötzlich sah er Matthias und sich dort stehen. Zwei zehn- und elfjährige Jungen, die sich ewige Freundschaft geschworen und durch eine Blutsbrüderschaft besiegelt hatten.

Sonntag für Sonntag versahen sie mit Freude und Stolz ihren Ministrantendienst und wetteten um ihre Lieblingsschokolade, wer beim nächsten Hochfest den Weihrauchschwenker übertragen bekam. Sie genossen die Ausflüge und Abende der Ministrantengruppe am knisternden Lagerfeuer, wenn die Mädchen und Jungen noch frei von Stimmbrüchen aller Art zum Gitarrenspiel des Oberministranten aus der „Mundorgel“ sangen.

Bis sich alles schlagartig veränderte, dort hinter der Sakristeitür, zwischen den mahagonifarbenen Schränken. Immer und immer wieder versuchte er unverdrossen sein Ziel zu erreichen und nutzte die Naivität der beiden Jungen aus. Einschüchterungsversuche und Drohungen setzen sich in den Köpfen der Jungen fest und die Überzeugung, selbst Schuld zu haben, nahm in ihnen Gestalt an.

Es hörte erst auf, als er nach seinem Schulabschluss einen Ausbildungsplatz in einer anderen Stadt bekam und wegzog. Er kam ungeschoren davon. Eisiges Schweigen hatte sich wie ein Panzer über die Taten gelegt. Die Gefühle der beiden Jungen waren verletzt, ihre Seelen zerbrochen. Zaghafte Versuche, sich bei Erwachsenen Hilfe zu suchen, scheiterten kläglich am allgemeinen Nicht-Sehen, Nicht-Hören und Nicht-Verstehen wollen.

Julian zog zu Hause aus, weit weg in eine andere Stadt. Auch in seiner Familie fand er kein offenes Ohr und schon gar keine Unterstützung. Der Kontakt zu Matthias wurde immer dürftiger. Der Graben des Schweigens über das Geschehene wurde immer tiefer zwischen ihnen.

Im Laufe der Jahre bekam Julian wieder ein wenig Boden unter die Füße, seine Therapeutin schaffte es mit viel Empathie und Geduld, seinen unbeschreiblichen Schmerz zu lindern.

Und nun saß er hier am Ort des Geschehens, nach vielen Jahren.

Die Todesanzeige in der Zeitung hatte ihn bis ins Mark getroffen. Noch mehr die Tatsache, dass Matthias sich das Leben genommen hatte. Das Erlebte, nie verarbeitet, nie öffentlich gemacht und therapiert, hatte ihn in den Selbstmord getrieben.

Erst als sich vorsichtig eine Hand auf Julians rechte Schulter legte und seinen von Schluchzen durchgeschüttelten Körper berührte, kehrte er zurück in die Wirklichkeit.

Die ersten Trauergäste trafen ein, um Matthias auf seinem letzten Weg zu begleiten. Julians tränennasse Augen suchten die leer geweinten Augen von Matthias Mutter. Er drückte ihre Hand und nickte ihr zu, verstehend und verbunden – ohne Worte.

500 Wörter

30 Kommentare

  1. Liebe Anna-Lena, dazu etwas zu schreiben und nicht entsetzt zu schweigen, ist furchtbar schwer.

    Ich wünschte mir, dass das Wissen verbreiteter wäre, dass Glauben auch ohne Priester möglich (und richtig) ist, sodass den Missbrauchten nicht beides fehlt: die Gnade ihres G*ttes und der Vermittler.
    Ach, Schande über die Missbraucher weltweit, Schande, Schande, Schande.

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    • Liebe Christiane, Glauben ist durchaus ohne Priester möglich und sicher auch richtig.
      Es soll ja auch Prieser geben, aber bitte welche, die künftig nicht dem Zwangszölibat unterliegen und langsam wird es auch in der katholischen Kirche überfällig, die Frauen in die geweihten Positionen zu bringen.

      Durch die Segnung queerer Menschen, zu der sich viele kath. Priester spontan trotz Vatikanverbot entschlossen haben und das outing der Mitarbeiter in der kath. Kirche vor gut einer Woche kommt ja nun doch ein wenig Bewegung in die ‚verstaubten Kirchenschiffe‘ und ich hoffe, da bricht noch vieles auf …

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  2. Man spürt, wie sehr Dich das Thema berührt, Das muss wie leises Streicheln für Julian gewesen sein und alle, die solches durchgemacht haben.
    Ich selbst bin zwar auch katholisch, aber nie in solch eine Zwangslage gekommen, weil ich nie in die Kirche musste. Meine Mutter hatte immer gesagt: man kann auch Zuhause ein guter Christ sein.

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  3. Wie gut, daß Du über den Mißbrauch geschrieben hast, liebe Anna-Lena!
    Hier bezieht er sich auf das Geschehen hinter den Kulissen der katholischen Kirche, aber er ist leider nicht nur dort und es ist schrecklich, daß Kindern höchst selten geglaubt wird.
    Mir ging es im übrigen auch so und ich sagte dann nie mehr auch nur noch ein Tönchen…

    Ganz herzlich, Bruni

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  4. Pingback: Schreibeinladung für die Textwochen 06.07.22 | Wortspende von Kain Schreiber | Irgendwas ist immer

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