In diesem Haus ging es zu wie in der berühmt-berüchtigten ‚Lindenstraße’. Die Mietergemeinschaft, die nach Fertigstellung des Neubaues Anfang der sechziger Jahre dort eingezogen war, hatte sich auf Irmchen und Hildegard reduziert. Ein Teil bewohnte inzwischen den städtischen Friedhof, ein anderer Teil lebte im Seniorenheim.
Irmchen und Hildegard hatten längst vor, sich auch einen Platz im Seniorenheim zu suchen, doch der häufige Mieterwechsel im Haus bot ihnen immer interessante Neuigkeiten, die ihren knapp achtzigjährigen Horizont erweiterten. Das Haus hatte mittlerweile viel vom inneren und äußeren Glanz eingebüßt, aber es war trocken, stabil gebaut und unverwüstlich, wie die beiden älteren Damen aus der Gründerzeit. Die Mieten waren erschwinglich, die Wohnungen hell und freundlich und so zog es Studenten und andere junge Leute ins Haus. Und im Zeitalter der multikulturellen Gesellschaft war das Haus ein ganz normales Mietshaus mit jugendlichem weltoffenem Flair.
Irmchen und Hildegard waren seit Jahrzehnten Nachbarinnen und inzwischen unzertrennliche Freundinnen, nachdem sich die alte Garde so nach und nach verabschiedet hatte. Der tägliche Höhepunkt ihres manchmal recht eintönigen Rentnerdaseins war der Besuch im Cafe gegenüber. Dort trafen sie sich Nachmittag für Nachmittag bei einem Kännchen Kaffee und einem Stück Torte. An einem extra für sie reservierten Tisch saßen sie dem Haus in der Goethestraße Nummer drei gegenüber und beobachteten, was sich Neues ereignete. Sie kannten die wenigsten Mieter persönlich, aber durch ihre täglichen Beobachtungen wussten sie mehr über die einzelnen Mieter, als so manch anderer.
Die Haustür öffnete sich und eine junge Mieterin, die erst vor wenigen Tagen in eine Zweizimmerwohnung gezogen war, trat mit einer Babytasche aus dem Haus. „Guck mal, das ist die Neue mit dem Negerbaby“, flüsterte Irmchen aufgeregt. Hildegard warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. „Du siehst soviel fern und hast immer noch nicht begriffen, dass das Wort Neger heute ein Schimpfwort ist.“ Irmchen machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Na und? Zu unserer Zeit hat man Neger gesagt und es auch nicht als Schimpfwort benutzt und dabei bleib ich. Das Baby ist ausgesprochen niedlich. Ein Mädchen mit schwarzen Kulleraugen und kleinen schwarzen Löckchen. Ganz bezaubernd.“
Hilgedard biss herzhaft in ihre Schwarzwälder Kirschtorte und murmelte: „Hast du schon einen Vater zu dem Kind gesehen?“ „Nö. Die junge Frau scheint alleine mit dem Kind eingezogen zu sein.“ „Ganz schön mutig, als Weiße alleine mit einem farbigen Kind.“
Die junge Mutter mit ihrem Kind hatte sich gerade aus der Sichtweite der älteren Damen begeben, als ein junger, etwa fünfundzwanzigjähriger Türke das Haus verließ. Nun funkelten Hildegards Augen. „Das ist vielleicht einer! Meinst du, der grüßt, wenn er mich sieht? Scheinbar ist das heute nicht mehr in. Wenn überhaupt, dann sagt er höchstens ‚Hallo’ oder sagt was auf Türkisch. Ich finde das unmöglich, du nicht, Irmchen?“ „Was erwartest du in der heutigen Zeit, wo jeder nur an sich denkt? Da kannst du froh sein, wenn jemand auch nur den Ansatz zum Gruß macht. “Während der junge Mann in seinen verdreckten und verbeulten Golf einstieg fiel Hildegard noch etwas ganz Lebenswichtiges ein. „Ich pass ja auf, ob jeder auch das Treppenhaus wischt, wenn er dran ist. Die Frau von dem jungen Mann hat letzte Woche nicht geputzt. Und das bei dem Dreckwetter.“ „Das ist unerhört! Ob sie es vergessen hat?“ „Weiß nicht. Ich hab schon mal daran gedacht, zu klingeln, um sie daran zu erinnern. Aber eigentlich geht mich das nichts an.“ „Wie gut, dass wir die junge Studentin haben, die für uns regelmäßig putzt.“ „Wir bezahlen sie ja auch gut, sonst könnte sie sich ihr Auto sicherlich nicht leisten.“
Eine ganze Weile tat sich nichts. Vor lauter Langeweile bestellte sich Irmchen noch ein Plunderstückchen mit Pudding. Gerade, als sie herzhaft hineinbeißen wollte, parkte ein Taxi vor der Haustür. „Da kommt jemand“, flüsterte Hildegard. Eine junge Frau im eleganten grauen Hosenanzug bezahlte den Taxifahrer, der ihr galant die Tür zum Aussteigen aufhielt und ihr dann einen Koffer und eine Reisetasche aus dem Kofferraum hob. „Schau mal an, da ist sie ja wieder.“ Aufgeregt starrten beide durch die Scheibe.
„Ob sie in Urlaub war?“ „Möglich. Aber ich glaube eher, sie hatte ihren Mann mal für einige Zeit verlassen.“ Hildegard starrte Irmchen entsetzt an. „Wie kommst du darauf?“ „Ich habe es dir doch erzählt, erinnerst du dich nicht?“ Irmchen blickte ihre Freundin besorgt an. Wurde sie langsam vergesslich? „Als ich vor vier Wochen von Doktor Meinhardt kam, flanierte ihr Mann in weiblicher Begleitung gerade an der Praxis vorbei, als ich herauskam. Und an den folgenden Tagen habe ich Frau… wie heißt sie gleich…Schulze-Stemmberg ständig mit ihrem Mann streiten gehört. Und plötzlich war Abend für Abend wieder Ruhe, genau seit vier Wochen.“ „Ich habe mich auch oft mit meinem Rudi gestritten. Und als er anfing schwer zu hören, wurde es auch mal lauter. Er hat sich lange geweigert, einen Hörapparat zu tragen.“ „Ja“, sinnierte Irmchen. „ich kann mich noch gut daran erinnern, als ich meinen Fernseher gar nicht einschalten brauchte, weil ich jedes Wort von euch mithören konnte.“
Langsam wurde es Zeit, wieder nach Hause zu gehen. Aus Erfahrung wussten sie, dass jetzt nichts mehr zu erwarten war, denn die anderen Mitbewohner kamen später oder zu unregelmäßig, als dass sie weiteres Warten gelohnt hätte. Sie bezahlten und gingen nach Hause Aus dem Fahrstuhl trat die Frau des jungen Türken, lächelte die beiden Damen kurz an und machte sich auf den Weg nach draußen. „Halt“, rief Irmchen und hob zur Bekräftigung ihren Gehstock. „Bitte warten Sie.“ Die junge Frau drehte sich unsicher um und kam langsam zurück. „Verzeihen Sie, aber in diesem Haus wird zum Wochenende immer das Treppenhaus geputzt. Sie haben es in der letzten Woche sicher vergessen? Bitte, denken sie in Zukunft daran, ja? Wir wollen uns doch hier alle wohl fühlen.“
Die junge Frau errötete leicht. „Bitte entschuldigen. Aber ich hatte Samstag Kind bekommen und nicht konnte putzen. Musste schlafen viel, war Geburt sehr schwer.“ „Das ist schon in Ordnung. Alles Gute für Ihr Kind. Was ist es denn?“ „Wieder Junge, dabei ich wollte haben Mädchen. Muss gehen einkaufen.“ Hildegard und Irmchen blickten sich gegenseitig fassungslos an.
Wie konnte das passieren, dass sie eine Hochschwangere übersehen hatten?? Sie mussten unbedingt besser aufpassen.
© G. Bessen
„Tratsch im Treppenhaus“, eigentlich etwas Widerwärtiges, aber so treffend geschildert. Im „Ohnsorg-Theater“ , einer Volksbühne, gab es das ja zuerst.
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Als ich diese Geschichte schrieb, hatte ich da so ein paar lebende Exemplare vor meinem geistigen Auge … 😆 . Und sie passt mal wieder in unsere Zeit, die so voller Vorurteile steckt.
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Ich dachte, „Bessen“ hätte das geschrieben . Der Name steht unter anderen kurzen oder langen Texten an anderer Stelle auch.
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Anna-Lena ist mein Pseudynym, liebe Gisela 🙂
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Danke, aber ganz verstehe ich das noch nicht. Anna-Lena ist ein Pseudonym, das verstehe ich, finde es gut. Und “ Bessen“ ? Den Namen las ich schon an vielen Orten. War das jedesmal von Anna-Lena?
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Ja, liebe Gisela, Anna-Lenas richtiger Name ist Gaby Bessen, Anna-Lena gibt es schon seit 11 Jahren im Bloggerland 🙂 .
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Vielen Dank, liebe Anna-Lena, liebe Gaby Bessen! Ich freue mich über den Blog von Anna-Lena und wünsche weiterhin alles Gute!💛✋
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Danke, liebe Gisela, für dich auch! 🙂
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😊
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Es sind aber noch ein paar Fragen geblieben; denn ich fand die Unterschrift Bessen auch z.B. bei seitenreiter und bei christin von margenburg.
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Das überrascht mich, aber wer weiß …
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Jedenfalls vielen Dank! Und ich freue mich über Anna-Lena/Bessen
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Wie aus dem wahren Leben abgeschrieben 🙂
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Bingo, da sind einige erlebte Momente drin verpackt, lieber Arno!
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1010 Wörter ohne Titel, was bedeutet das bloß?
Ich vermute mal, das liegt am Fasten –
mehr Energie für’s Schreiben,
weniger für’s Verdauen, kann das System entlasten,
wodurch dann, welch ein Wunder, Wörter, Sätze, Ideen,
um Entlassung aus dem Köpfchen fleh’n!
Anna-Lena horchts du jetzt an der Tür,
lässt die Geschichten dir servieren von rüstigen Senioren,
egal, schön war es, sie zu lesen, ich will nicht weiter bohren …
YDu 😉
PS: Hoffentlich habe ich mich in der Eile nicht verzählt!?
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Ich bin Seniorin, lieber YDu 😆 !
Ich habe dieses Mal nicht mitgezählt, was machen ein paar Wörter mehr oder weniger schon aus.
Einen lieben Gruß dir,
Anna-Lena
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Mit den Wörtern steht und fällt der Text,
eins zu wenig – ist er verhext,
eins zu viel – wird’s zu komplex,
so zählte ich für dich die Worte,
natürlich nur die von der feinen Sorte
und muss am Ende Dir ganz ehrlich sagen:
So was von richtig, hat sich das gelohnt das „Plagen“ …
YDu 😉
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Solange du nur Wörter und keine Linsen oder Erbsen oder gar Sandkörner zählst, mache ich mir keine größeren Sorgen 😆 !
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Gute Idee! Linsen und Erbsen habe ich nicht im Haus, ist also rasch erledigt, die Sandkörner sind gefühlt eine echte Herausforderung … 😉
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Bei den Hamsterkäufen kann es schwer sein, Erbsen und Linsen zu bekommen und die Sandstrände sind wohl gerade eher regennass. Tja, was tun? 😉
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*schmunzel*, kann es sein, daß ich mich an diese beiden lieben alten Plaudertaschen erinnere, liebe Anna-Lena.
Es ist so ein feiner Post von Dir, Ich kann ihn immer mal wieder lesen. Ich kann sie mir so gut vorstellen, die beiden alten Damen, wie sie tratschen und über die Nachbarn nachsinnen.
Liebe Nachmittagsgrüße von Bruni an Dich
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Ja, liebe Bruni, Plaudertaschen dieser Art sterben nie aus und sind in unserer heutigen, vorurteilsvollen Zeit immer wieder in Höchstform.
Einen schönen Abend für dich und liebe Grüße dir!
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Klatsch und Tratsch vom Feinsten! :–)
(Bin erst jetzt dazu gekommen den Beitrag zu lesen.)
Lieben Gruss ins Heute,
Brigitte
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Du musst dich nicht entschuldigen, liebe Brigitte. Einen Gruß zum anstehenden Wochenende,
Anna-Lena
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Herrlich 😊 und leider wahrscheinlich nicht ganz selten….
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Mehr als wir uns vorstellen, so denke ich 😉 .
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