Schreibeinladung für die Textwochen 06.07.20 | Wortspende von Make a choice Alice
Die Wörter für die Textwochen 06/07 des Schreibjahres 2020 kommen von Alice mit ihrem Blog Make a Choice Alice. Ihre neuen Begriffe lauten:
Grippe
gebleicht
knuddeln
Inhaltshinweise: Dieser Text kann Bilder erzeugen, die für sensible Menschen belastend sein können (hier:Suizidgedanken)! Die entstehenden Bilder können Flashbacks auslösen und bisher blockierte Erinnerungen freisetzen. Der Autor übernimmt keine Haftung für entstehende psychische oder seelische Schäden. Lesen Sie den Text bitte nicht, wenn Sie entsprechend sensibel oder sensitiv sind.
Merle
„Erzählt mir etwas über Merle.“
Die junge Frau blickte erwartungsvoll in die Gesichter der vor ihr sitzenden Mädchen und Jungen, doch sie senkten ihre Köpfe und schwiegen. Nach einer Weile der Stille hob ein Mädchen mit einem blonden Lockenkopf ihr verweintes Gesicht und stammelte: „ Merle wurde von manchen Jungen höherer Klassen verspottet. Sie sagten oft auf dem Schulhof …“. Die Stimme des Mädchens stockte. Sie hob erneut an:
„Du Xanthippe, du Gerippe, hüte dich vor einer Grippe!“
„Warum haben die Jungen denn so etwas gesagt?“
„Merle wurde immer dünner und immer blasser. Selbst im Sommer sah ihr Gesicht wie ausgebleicht aus.“
Ein anderes Mädchen meldete sich:
„Ich glaube, es hatte mit Merles Familie zu tun. Niemand durfte sie zuhause besuchen. Sie ließ niemanden an sich heran. Manchmal hätte ich sie am liebsten in den Arm genommen, um sie einfach mal zu knuddeln. Aber wenn man ihr zu nah kam, wich sie zurück, wie ein aufgescheuchtes Reh.“
„Merles Eltern haben nicht viel Geld. Ich habe ihr immer heimlich etwas von meinem Pausenbrot zugesteckt, denn sie hatte selten etwas zu essen mit.“
Die Befragung der Mitschüler und der unterrichtenden Fachlehrer dauerte den Vormittag über an und ganz langsam dämmerte es der jungen Polizistin, dass hier über ein Mädchen gesprochen wurde, dessen kurzes Leben sich immer klarer herauskristallisierte.
Merle war ein Mädchen gewesen, das zuhause mit Pflichten für die jüngeren vier Geschwister völlig überfordert gewesen war und weder zum Lernen noch für sich selbst ein wenig Zeit und Raum einfordern konnte. Arbeitslosigkeit und Krankheit der Eltern führte die Familie immer mehr an den finanziellen Abgrund und Merle auf das Dach des fünfgeschossigen Schulgebäudes.
Mit einem Sprung lange vor der ersten Unterrichtsstunde beendete sie ihr kurzes und so unglückliches Leben. Der Hausmeister fand sie, bevor der Ansturm der Schülerschaft den Schulhof erreichte.
300 Wörter
Sehr eindringlich geschrieben und schade, dass die Tränen erst hinterher kommen. Ich frage mich immer, warum es anscheinend nicht die Möglichkeit vorher einzugreifen. Man hat ja anscheinend gesehen und gespürt, dass etwas nicht in Ordnung ist …. ganz bitter!
LikenGefällt 3 Personen
Ist das nicht auch ein Spiegel unserer Gesellschaft, dass zu wenig hingesehen wird?
LikenGefällt 3 Personen
Auf jeden Fall
LikenGefällt 1 Person
Puh, bedrückend, sehr und ich habe mit dem Gefällt-mir Button gehadert. Aber Deine Erzählung ist so wichtig, so dicht, so gut erzählt, schnörkellos und dadurch besonders eindringlich, … muss sie jetzt aber erst einmal verdauen …
LikenGefällt 3 Personen
Wichtig ist mir einfach, immer wieder daran zu erinnern, dass wir offene Augen und Ohren behalten.
LikenGefällt 2 Personen
Eine Geschichte, die ganz sicher auf realen Hintergründen basiert oder es zumindest könnte.
So manche seelische Not wird einfach nicht erkannt. Traurig!
Aber schön von dir geschildert.
Lieben Heutegruss,
Brigitte
LikenGefällt 2 Personen
Real in unserer Gesellschaft ist einfach, dass oft nicht genau hingesehen wird. Mobbing in der Schule und am Arbeitsplatz ist verbreitet, und auch wir beide wissen aus unseren dienstlichen Erfahrungen, wie wenig man da machen kann, auch wenn man noch so genau hinschaut.
Auch dir liebe Grüße,
Anna-Lena
LikenGefällt 1 Person
Da habe ich beim Lesen gerade eine Gänsehaut bekommen.
Ich halte es zwar mit den Bremer Stadtmusikanten (etwas Besseres als den Tod findest du immer), aber man kann sich glaube ich sehr schnell selbst isolieren und dann zu unumkehrbaren Entscheidungen kommen.
LikenGefällt 2 Personen
Wenn die Umgebung offene Augen und Ohren hat, kann oft Schlimmes verhindert werden, gerade, wenn es um Kinder geht.
LikenGefällt 1 Person
O je. Ich werde so wütend und so traurig, wenn ich so was lese. Ich fühle mich dann so hilflos. Was für eine Verschwendung. So viel, was schiefläuft. Ach, ach, ach. Armes Mädchen.
Liebe Grüße
Christiane 😥☕🍪
LikenGefällt 3 Personen
Hilflosigkeit und Machtlosigkeit einerseits und Gleichgültigkeit und Wegsehen andererseits – das finden wir immer wieder in unserer Gesellschaft – leider.
Wenn die Geschichte uns das wieder mal wieder bewusst macht, dann ist es gut.
Auch die liebe Grüße aus dem aktuell sonnigen Brandenburg,
Anna-Lena
LikenGefällt 2 Personen
Traurige Geschichte!
LikenGefällt 1 Person
Selbstmord ist immer schlimm, aber bei Kindern ist das nochmal eine Spur härter. Als Kind sollte man Träume von der Zukunft und nicht Angst vor ihr haben. Eine sehr nachdenklich stimmende Etüde.
LikenGefällt 2 Personen
Es gab ja gerade Halbjahreszeugnisse und der Hinweis auf Sorgentelefone in den Medien, wenn die Noten zu schlecht sind oder die Angst vor den Eltern zu groß ist, haben eigentlich den Anstoß dazu gegeben.
Versuchen wir, die Kinder zu schützen, wo immer wir es können.
LikenGefällt 4 Personen
Das tut immer mehr weh beim Lesen liebe Anna-Lena. Leider gibt es nur zu viele Schülerinnen und Schüler, die schon sehr früh durch Mobbing verzweifeln und ihrem Leben ein Ende machen. Am häufigsten wohl in Schweden und Japan …
Gut geschrieben!
HG vom Lu
LikenGefällt 3 Personen
Schlimm, dass es auch schon so viele Kinder trifft und man bleibt einfach hilflos zurück.
Auch dir liebe und sonnige Grüße!
LikenGefällt 1 Person
Dass sie schon den Mut dazu haben … unfassbar …
LikenGefällt 1 Person
300 Wörter, 1622 Zeichen ( ohne Leerzeichen), 1912 Zeichen ( mit Leerzeichen) >> Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser! Nie wieder zweifle ich an der Angabe der Wörteranzahl deiner Texte …
LikenGefällt 1 Person
Wie gut, dass wir beide zum selben Ergebnis kommen, lieber YDu 🙂 .
LikenGefällt 1 Person
🙂
LikenLiken
Das ist eine Geschichte, die so gar nicht fiktiv daherkommt und einen einfach erschüttert. Lehrer haben eine große Verantwortung und sind oft schlecht gerüstet, um ihr gerecht zu werden, auch wenn sie sich echt bemühen. Sozialarbeiter gibt es wohl auch an den meisten Schulen? Und das Mobbing sollte endlich zum Unterrichtsgegenstand gemacht werden: Es hat sich in den social media wie ein Lauffeuer verbreitet, höre ich. Jeder Schüler, jede Schülerin sollte einmal selbst fühlen, was es bedeutet, Opfer von Mobbing zu werden – durch Spiele, Kunstprojekte….
LikenGefällt 2 Personen
Ich kann dir versichern, dass viel in dieser Richtung an den Schulen passiert, liebe Gerda, doch oftmals sind keine Lehrer dabei, wenn Schüler gemobbt werden.
Sozialarbeiter gibt es, auch werden immer mehr Schüler*innen zu Mediatoren ausgebildet und versuchen Streitschlichtung .
Ich hatte mal Schüler, die haben in der Sportumkleidekabine einen Schüler festgehalten und ausgezogen und andere haben das gefilmt. So etwas passiert nicht im Beisein von Lehrern.
Hilfreich ist natürlich, wenn Schüler sich öffnen, den Eltern und auch den Lehrern gegenüber, erst dann kann auch entsprechend gehandelt werden.
LikenGefällt 2 Personen
Oh, was für eine schreckliche bedrückende Geschichte, liebe Anna-Lena. Du hast sie so eindringlich beschrieben, daß ich fast Mühe habe, sie als fiktiv anzunehmen.
Ich möchte nicht wissen, wie oft ein Kind in dieser Weise überfordert wird und daran psychisch zugrunde geht…
Liebe nachdenkliche Grüße von Bruni an Dich
LikenGefällt 1 Person
Sie ist absolut fiktiv, liebe Bruni, aber sicher zigfach auch traurige Realität.
Einen lieben Gruß auch an dich!
LikenGefällt 1 Person
Ja, so ist es wohl, liebe Anna-Lena, und es ist so bedrückend, sich das vorzustellen …
Liebes grüßle an Dich
LikenGefällt 1 Person
Puh, das ist harter Tobak. Leider kommt sowas vor und von außen merkt man es viel zu spät…
LikenGefällt 1 Person
Ja, da hast du leider recht!
LikenGefällt 1 Person
Pingback: Schreibeinladung für die Textwochen 08.09.20 | Wortspende von BerlinAutor | Irgendwas ist immer