Waldgeflüster

Waldgeflüster

Die Nachmittagsonne tauchte den Herbstwald in ein milchiges Licht, als der Steinpilz aus seinem Mittagschlaf erwachte. Die Sonnenstrahlen kitzelten ihn auf der Nase und so schob er seinen braunen, feinrunzeligen Hut ein wenig tiefer ins Gesicht.

Um ihn herum war es still und das machte ihn traurig. Seitdem seine Eltern und Geschwister weggegangen waren, fühlte er sich sehr einsam. Was wohl aus ihnen geworden war? Menschen hatten sie einfach mitgenommen. Er war der Kleinste und deshalb hatten sie ihn übersehen, als sie laut redend durch den stillen Wald stapften. Er hatte ein Plätzchen an einem umgefallenen Birkenstamm. Das herab fallende Laub, das sich kaum von der Farbe seines Hutes unterschied, hatte ihn bisher in manch heikler Situation geschützt.

„Na, hast du endlich ausgeschlafen?“, rief ihm der alte hässliche Fliegenpilz entgegen.
Der Steinpilz reagierte nicht. Als seine Familie weg war und der kleine Steinpilz vor Trauer bitterlich weinte, grinste der Fliegenpilz nur und bemerkte mitleidslos:
„Was heulst du denn? Die Menschen mögen euch. Sie schmoren, braten und trocknen euch.
Was schmeckt ihr auch so gut? Da kannst du doch nicht erwarten, dass die Menschen solche Leckerbissen einfach hier lassen. Mir kann so etwas nicht passieren.“
Seitdem hatte der kleine Steinpilz kein Wort mehr mit dem Fliegenpilz gewechselt. Er mochte ihn nicht und wünschte ihm, des Nachts von einem Wildschwein zertrampelt zu werden.

Der Steinpilz sah sich verloren um. Die wenigen Pilze in seiner Umgebung waren alle weg. Der September war so trocken gewesen, dass die Menschen fast vergeblich nach den Pilzen suchten.
Plötzlich begann der Boden begann zu vibrieren, als öffnete sich eine Erdspalte. Erschrocken sah der Steinpilz sich um. Er wollte den Hut noch einziehen, aber es war zu spät. Eine Fuhre trockenen Sandes rieselte auf ihn hernieder, so dass es ihm die Luft zum Atmen nahm. Er schüttelte sich, hustete und versuchte, den grauen Sand, den die Hufe des Pferdes aufgewirbelt hatten, abzuschütteln.

„Wie siehst du denn aus?“, fragte eine piepsige Stimme. Verwundert blickte der Steinpilz auf den schwarz glänzenden Waldkäfer, der sich am Fuße seines kräftigen Stiels hingehockt hatte.
„Das siehst du doch“, antwortete der Steinpilz unwirsch. „Hier gibt es leider keine Geschwindigkeitsbegrenzung für Pferde, sonst sähe ich wohl nicht so aus.“
„Mach dir nichts draus, es gibt noch heute Abend Regen, das spüre ich. Dann bist du zur Nacht frisch geduscht“, beschwichtigte der Waldkäfer. Um seine Worte zu bekräftigen, bewegte er seine kurzen, kräftigen Fühlhörner, die rosenkranzförmig auf dem Oberkiefer standen.

Im Laufe des Abends zog noch der eine oder andere Waldbewohner auf der Suche nach einer Abendmahlzeit vorbei und blieb auf einen kurzen Plausch mit dem Steinpilz stehen.
Neidisch blickte der Fliegenpilz herüber. Er rückte seinen großen roten Hut zurecht und hielt die speckig glänzende Huthaut hoch, um von den Neuigkeiten im Wald zu erfahren. Dabei hüpften die glockenartigen weißen Tupfer aufgeregt hin und her. Aber aus den Bruchstücken, die der Wind ihm zuflüsterte, konnte er sich keinen Reim machen. Enttäuscht zog er sich zurück und schlief zeitig ein.
Als die Dämmerung über den stillen Wald hereinbrach, begann es zu regnen. Feine kleine Tropfen fielen vom Himmel und reinigten den Steinpilz so gründlich, dass sein jugendlicher Glanz selbst in der beginnenden Dunkelheit zu leuchten begann.
Die Nacht umfing ihn und er schlief tief und traumlos.
Am frühen Morgen wachte er vom Gezwitscher der Vögel auf. Die ersten Sonnenstrahlen suchten sich ihren Weg durch die sanft wiegenden Baumwipfel. Er reckte und streckte sich und begrüßte den neuen Tag.

Als er sich jedoch umblickte und sich seiner Einsamkeit bewusst wurde, begann er wieder zu weinen. Kein Pilz war weit und breit zu sehen, nur der hässliche Fliegenpilz.
Er bekam im Laufe des Tages viel Besuch und dafür war er sehr dankbar, aber ihm fehlte ein Partner, mit dem er reden konnte, der ihn verstand. Alles anderen Besucher konnten laufen, krabbeln oder fliegen, aber er? Er konnte niemanden besuchen.
Plötzlich spürte er, dass sich hinter ihm etwas regte, vorsichtig und zaghaft.
Wie gebannt starrte er auf die gefallenen bunten Blätter der kräftigen Eiche, deren farbenprächtige Baumkrone sich mehr und mehr lichtete. Langsam hob sich die Erde und zwischen einem Eichen- und einem Birkenblatt kam der flach gewölbte, hellbraune Hut eines winzigen Steinpilzes zum Vorschein.
Der Steinpilz begann vor lauter Freude zu zappeln und zu zittern und begrüßte seinen neuen Verwandten mit einem strahlenden Lächeln.
Nun hatte seine Einsamkeit ein Ende. Er würde alles tun, um seinen neuen kleinen Freund zu beschützen.

© G.B. 2009

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