Erwin und Willi, Ole und Rosi
Willi schaut versonnen auf den immer weniger werdenden Schaum in seinem Bierglas.
„Geht es dir heute nicht gut? Du bist so schweigsam.“
„Doch schon, aber ich habe das Gefühl, wir sollten uns mal eine andere Kneipe suchen. Die hier weckt zu viele Erinnerungen, besonders für dich.“
Erwin schaut ihn an und versteht ihn ohne Worte.
Willi zuckt zusammen, als ihm jemand freundschaftlich auf die Schulter klopft.
„Hallo, Ihr zwei! Immer noch am alten Tatort“?
„Hallo, Ole, schön, Dich zu sehen. Ja, ich weiß auch nicht, wir haben gerade darüber gesprochen, die Kneipe zu wechseln, aber wenn man hier jahraus, jahrein sein Feierabendbierchen getrunken hat, ist das so wie ein Stück Heimat.“
„Ich jedenfalls wäre froh, wenn ich in Rente wäre und um diesen Kiez einen Riesenbogen machen könnte.“
„Na, da trifft sich ja der halbe Abschnitt wieder“, ertönte plötzlich eine helle Frauenstimme.
„N’abend Willi, n’Abend Erwin. Wie gefällt Euch Euer Rentnerdasein?“
„So weit, so gut, aber mit Dir, Rosi, geht doch glatt die Sonne auf!“ Willy schaut seine ehemalige Kollegin mit strahlenden Augen an.
Die vier setzen sich an einen Tisch und plaudern über das Tagesgeschehen, so wie früher, als sie gemeinsam in einer Dienstschicht waren.
„Was macht Ihr denn so den ganzen Tag?“, fragt Rosi neugierig.
Willi nimmt Rosis Frage spontan auf. „Du weißt doch, Rentner haben nie Zeit. Ich bin immer gut beschäftigt und gehe all meinen Hobbys nach, für die ich früher keine Zeit hatte. Und du glaubst nicht, wie schnell so ein Tag verflogen ist.“
„Ich muss mir noch das eine oder andere Hobby suchen, so ausgefüllt, wie Willi bin ich leider noch nicht“, seufzt Erwin und wirft einen etwas neidischen Blick auf Willi. „Hilde arbeitet ja noch drei Tage in der Woche und da fühle ich mich alleine zu Hause doch manchmal wie in einem luftleeren Raum.“
Rosi, Ole, Willi und Erwin haben gemeinsam die letzten Jahre in der Direktion 3, im Abschnitt 36 der Berliner Polizei gearbeitet. Während Erwin und Willi seit gut einem halben Jahr im Ruhestand waren, hatten Rosi und Ole noch etliche Jahre vor sich. Sie waren einst ein eingespieltes Quartett und immer mit Leib und Seele bei der Arbeit gewesen.
„Wie macht sich denn der neue Abschnittsleiter?“, fragt Willi mit gespanntem Gesichtsausdruck.
„Du willst doch nur hören, dass er Dir nicht das Wasser reichen kann, stimmt’s Willi?“
„Er ist viel zu jung, unflexibel, ein Paragraphenreiter und ein Korintenkacker, genau das Gegenteil von Dir, Willi. Bist du nun zufrieden?“
Willi strahlt über das ganze Gesicht. „Genau das wollte ich hören! Es ist nicht so, dass ich die Arbeit ganz aus dem Kopf habe. Und es passiert mir früh manchmal, dass ich hochschrecke und denke, ich hätte verschlafen und müsste längst im Dienst sein.“
Erwin schweigt und hängt seinen eigenen Gedanken nach. Er ist froh, in Pension zu sein, denn seit seiner Schussverletzung im letzten März, mitten auf der stark befahrenen und von Menschen überfüllten Müllerstraße, konnte er seinen Dienst nicht mehr versehen. Ein mehrwöchiger Krankenhausaufenthalt mit einer begleitenden Therapie und einer Rehamaßnahme nach seinem verheilten glatten Beindurchschuss hatten ihn psychisch dienstuntauglich werden lassen. Er war voller Angst und konnte sich selbst im Fernsehen keinen Krimi ansehen, ohne an seine eigene Situation zu denken. Nachts quälten ihn Träume, längst gelöste Fälle aus seiner Dienstzeit tauchten wieder auf und er wachte nicht selten schweißgebadet auf.
Der Gedanke, die Stammkneipe zu wechseln, kam ihm gerade recht, auch wenn das bedeutete, auf den regelmäßigen Austausch mit den Kollegen von früher verzichten zu müssen. Willi würde das verschmerzen, er stand mit einigen Kollegen immer noch in freundschaftlicher Verbindung und ihm würde es helfen, sein Trauma für immer zu bewältigen.
©G.B. 1/13